1874-1975 - Friedrich Ratzel
Veracruz
Veracruz sieht sich von der See wie eine orientalische Stadt an. Die Kuppeln seiner Kirchen, deren farbige, glasierte Ziegel weithin leuchten und von minarettartig schmalen Türmchen überragt sind, die weissen, dachlosen Häuser, selbst die Dürre des Sandes, der rings die Stadt umgibt und die Verödung, welche ausserhalb der Mauern dir entgegenstarrt, erinnert an Gegenden, wo der Halbmond herrscht.
Indessen ist diese Ähnlichkeit vielen spanisch-amerikanischen Städten eigen und nur die Lage und Umgebung macht dieselbe hier so auffallend. Im Innern dagegen ist Veracruz lebhafter, als man bei der verhältnissmässig geringen Bevölkerung erwarten sollte. Es sind in einigen Strassen grosse und gut gehaltene Häuser, in denen die Kaufleute ihre Bureaus und Wohnungen haben, es gibt mehrere ansehnliche Kaufläden und bessere Gasthäuser als in anderen Provincialstädten. Auch die Reinlichkeit der Strassen lässt wenig zu wünschen übrig, aber man hat sie nur den Sträflingen zu danken, welche hier in grösserer Masse interniert sind, und für welche man auf jede mögliche Weise Arbeit zu schaffen sucht. Zu zweien sind sie aneinander geschlossen und allmorgendlich rasseln sie mit Besen und Schaufeln durch die Strassen. Neben ihnen sind aber auch die Geier nicht zu vergessen, welche ich noch nirgends so häufig gesehen habe wie hier und welche sich trotz ihres sehr zweifelhaften Wertes für die Reinhaltung der Strassen grosser Schonung seitens der Bevölkerung zu erfreuen scheinen. Einige nette zahme Affen beleben den öffentlichen Garten, der schattig und blumenreich die Plaza ziert. Schwarze, bachstelzenschwänzige Tordos, die Vertreter unserer Spatzen, sind auch in den bewohntesten Strassen häufig, wo sie Körner und Brosamen aufpacken und vielleicht auch das Gras, das mächtig zwischen den Pflastersteinen hervorspriesst, etwas im Zaume halten, indem sie an seinen Wurzeln nach Würmern suchen. Tierreicher als an anderen Orten fand ich hier auch den Markt, auf welchem mehrere Arten von Papageien, Äffchen, Wickelbären (Cercoleptes) u. a. Bürger der Tieflandurwälder des atlantischen Saumes gar nicht selten vertreten waren.
Die Menschen von Veracruz sind eine bunte Gesellschaft. Der höhere Kaufmannstand, der die grossen Geschäfte des Haupthafens von Mexico leitet, setzt sich der Mehrzahl nach aus Deutschen zusammen. Einige Spanier und wenige Franzosen und Mexicaner stehen ihnen zur Seite. Engländer im Dienst der Eisenbahn können zu dieser Gruppe gerechnet werden. Mexicanische Politiker, die sich in solche teilen, welche bereits eine Anstellung bei der melkenden Kuh des Veracruzaner Zollamtes gefunden haben und solche, welche diese daraus zu verdrängen und sich an ihre Stelle zu setzen suchen, bilden zusammen mit einigen flüchtigen Revolutionären aus Cuba eine Gruppe, deren tägliches Brot die Politik, d. h. die Intrigue ist. Ausserdem ist die bessere Gesellschaft Mexico's nur ungenügend durch einige Officiere, Beamte und Lehrer vertreten. Der Rest besteht aus kleinen Kaufleuten und Handwerkern, Packträgern und Hökern. Unter den Fremden halten sich die Deutschen, welche wie gesagt die zahlreichsten sind, ziemlich abseits, wenn sie auch ebensowenig wie anderwärts eine geschlossene Gesellschaft im eigentlichen Sinne bilden. Das ungesunde Veracruz, das weder an sich noch in seinen nächsten Umgebungen irgendwelche nennenswerte Anziehungspunkte bietet, lädt weder zu längerem Verweilen noch zur Familiengründung ein; es gibt nur einige deutsche Familien und fast in allen sind die Hausfrauen Spanierinnen, ungesellig durch Erziehung und doppelt ablehnend gegen die Landsleute ihrer Gatten. Die Mehrzahl unserer Landsleute ist unverheiratet und denkt nicht lang zu bleiben, erwirbt wohl auch leichter als anderwärts, ohne dass indessen der Erwerb in allen Fällen ebenso sicher und solid sein könnte wie in anderen Hafenplätzen von ähnlicher Bedeutung. Der Hasardcharakter, der das mexicanische Geschäftsleben fast in allen Zweigen kennzeichnet - und wie sollte er in einem Lande von dieser convulsivischen Tagesgeschichte fehlen? - tritt auch hier deutlich hervor und wird noch verstärkt durch die örtlichen Verhältnisse: Die Abgeschiedenheit selbst von dem geringen Masse höherer Cultur, welche die Hauptstadt bietet, und das Gewagte des Lebens an einem der klassischen Sitze des Gelben Fiebers. Becherklang und Würfellust und was daranhängt, regieren vielleicht mehr als gut in der deutschen Colonie von Veracruz und manchmal gewann ich an jenen vielbesuchten Tischen eines spanischen Restaurateurs, die unter freiem Himmel auf der Plaza stehen und von welchen her bis tief in die Nacht teutonische Laute, wenn auch nicht immer Kosenamen, über den Marktplatz von Veracruz zu schallen pflegen, ein Bild, das ich Wallensteins Lager ins Kaufmännische übersetzt nennen möchte. Als ich bei einer späteren Durchreise direct von Veracruz nach Havana kam, war mir der Contrast der Sitten in beiden Städten auffallender als irgend etwas, das ich bis dahin in dieser Richtung gesehen. Hier der befestigte Reichtum guter alter Häuser, Anstand, Wohlerzogenheit, Bildung und Comfort, dort rücksichtslose Geldmacherei, Emporkömmlingstum, fieberhafter Genuss, rohe Sitten. In cubanisch-deutschen Kreisen hatte ich das Gefühl, mich unter den gebildeten Officieren eines Heeres zu bewegen, dessen Avantgarde ich in Veracruz auf einem öden, abgelegenen Wachtposten begegnet war, wo dieselbe mit allen Mitteln, die es irgend geben mochte, sich die Zeit vertrieb und in der exponierten Stellung nicht besser geworden war.
Charakteristisch ist, dass Veracruz mit seinen 12.000 Einwohnern einen sehr besuchten Vergnügungsort, eine (kleine) Art Baden-Baden besitzt, wohin weniger die Reize einer üppigen Urwaldnatur, als der grüne Tisch, die üppigen Soupers und braune Schönheiten von meist, abgesehen vom Alter, zweifelhafter Classicität die Veracruzaner Nabobs locken. Selbst für eine Eisenbahn nach diesem sonst unbedeutenden Nest hat man das Geld aufgebracht, wobei indessen zu bedenken ist, das für eine ungesunde, heisse Stadt wie Veracruz ein Buen Retiro von auch nur geringen Ansprüchen geradezu eine Notwendigkeit ist. In Medellin hatte man beste Gelegenheit, den Spielteufel, der die Mexicaner und sehr oft auch die hier lebenden Fremden beherrscht, in krassen Formen erscheinen zu sehen. Vermögen sind dort in einer Nacht verloren und gewonnen worden. Die halb mitleidige, halb geringschätzige, aber immer chevalereske Behandlung eines Aus- oder Abgespielten - der Mann könnte ja auch wieder einmal gewinnen - wie sie in der mexicanischen Gesellschaft überall zu finden, ist ein sehr eigentümlicher Charakterzug in der socialen Physiognornie, aber es kann nicht fehlen, dass die Nivellierung nach unten, ein Tieferrücken des socialen Pegels, eine der Folgen solch ritterlicher Gefühle ist.
Die erste Stellung, welche Veracruz von jeher unter den mexicanischen Seeplätzen eingenommen hat, beruht ausschliesslich nur auf seiner günstigen Lage zur Hauptstadt. Durch die Eisenbahn, welche seit 10 Jahren die beiden Centren des mexicanischen Handels und Verkehrs, Veracruz, das Ein- und Ausgangstor, und Mexico, den Verteilungsplatz, verbindet, ist diese Grundlage nur noch befestigt worden und übrigens ist Veracruz auch für andere, von der Hauptstadt unabhängige Gebiete, wie z. B. den productenreichen und vielleicht der grössten Entwickelung unter allen Teilen der Republik fähigen Staat Oajaca, der Hauptseehafen, der allerdings zunächst nur durch Saumpfade, auf denen die Maulthierkarawanen von Oajaca bis Veracruz 6-8 Tage brauchen, mit diesem wichtigen Teile seines Zufuhr- und Absatzgebietes verbunden ist.
Aber diese Lage ist sein einziger natürlicher Vorteil. Einen Hafen hat Veracruz eigentlich gar nicht, sondern nur eine Rhede. Die Schiffe, grosse und kleine, ankern hinter einer kleinen Insel, die hart vor Veracruz liegt und wegen des Forts, das sie trägt, für die Stadt früher von Bedeutung war. Aber dieses Fort hat Veracruz nicht davor geschützt, innerhalb dreissig Jahren dreimal durch feindliche Flotten genommen zu werden; 1837 durch die Franzosen, 1847 durch die Nordamericaner, und im Beginn der letzten Intervention durch die Spanier. Es ist gegenwärtig wertlos als Befestigung. Bei stürmischem Wetter gehen die Schiffe auf die hohe See, aber es fehlt dennoch nicht an Schiffbrüchen an dieser flachen, bänkereichen Küste, welche sogar in unmittelbarer Nähe der Stadt mit Trümmern garniert ist, welche von denselben herrühren. So gefährlich die Stürme für die Schifffahrt, so heilsam sind sie aber, und besonders die aus Norden wehenden, für die Gesundheitsverhältnisse. Wenn bei Nordsturm kein Schiff einzulaufen wagt, atmet der Fieberkranke auf und Epidemien des gelben Fiebers, welche oft Monate dauerten, sind durch andauernde Stürme beendigt oder wenigstens unterbrochen worden. Ich weiss nicht, ob auch glaubwürdig ist, was man sagen hört, dass Leidende von fortgeschritteneren Fiebern durch plötzlich sich erhebenden Nordsturm befreit wurden; jedenfalls hat jeder, der je in den Tropen lebte, die Erleichterung empfunden, welche in den so lästigen, latenten Fieberzuständen, wo die Krankheit nicht zum Ausbruch kommen kann, in jenem Vorstadium allgemeiner Abgeschlagenheit und Zerbrochenheit, durch raschen Übergang der warmen in kühlere Witterung, der ruhigen drückenden Luft in bewegte herbeigeführt wird. Bei genauerer Nachfrage habe ich, beiläufig gesagt, keine jener auffallenden Nachrichten bewährt gefunden, die über das Gelbe Fieber umlaufen. Die Todesgefahr, die mit dem Genuss gewisser Früchte (Bananen vorzüglich) verbunden sein soll, die unmittelbaren Wirkungen heftiger Erkältungen u. dgl. scheinen viel weniger wirksame Ursachen dieser heftigen Krankheit zu sein als die unbekannten Miasmen der Tieflandsümpfe um Veracruz. Dagegen findet man die geringere Neigung der Neger und ihrer Mischlinge zu derselben im Vergleich zu den einheimischen und eingewanderten Weissen auch hier bestätigt.
Ratzel, Friedrich
Aus Mexiko - Reiseskizzen aus den Jahren 1874 und 1875
Neudruck Stuttgart 1969