1884 - Ernst von Hesse-Wartegg
Mexiko City
Wenn man sich nach einer mehrwöchigen Eisenbahn- und Diligencenfahrt durch ein halbzivilisiertes, von Schluchten zerrissenes, felsiges Hochplateau auf den denkbar elendesten Wegen von den ausgestandenen Strapazen erholen will, wenn man wochenlang nur Indianderdörfer oder höchstens kleine ärmliche Provinzstädtchen zu Gesichte bekam, an keiner anständigen Mahlzeit teilnahm und in keinem halbwegs annehmbaren Bette schlief, so muß einem die Hauptstadt des einstigen Aztekenreiches als ein kleines Städteparadies, als der Inbegriff großstädtischen Komforts und Luxus erscheinen. Ich fürchtete deshalb, daß ich Mexiko mit seinen prachtvollen großen Plätzen, seinen hübschen Straßen, seiner malerischen Umgebung während meines ersten Aufenthaltes nur so liebgewann, weil ich eine der anstrengendsten und langwierigsten Überlandreisen hinter mir hatte, Ich zögerte mit meinem Urteil und hielt meinen Enthusiasmus einigermaßen in Schranken. Allein meine gute Meinung von Mexiko wurde nicht schlechter, als ich es 1884 zum zweiten Mal besuchte und zum zweiten Mal ein paar angenehme Wochen zu Füßen des mächtigen Popocatepetl verbrachte. Allerdings, Mexiko besitzt noch heute keines jener großen komfortablen Hotels, das man in jeder Stadt mit einer Viertelmillion Einwohner eigentlich mit Recht erwarten könnte. Der Reisende muß noch immer mit großen, kalten, dunklen Zimmern, mit schlechten Betten und Ziegelboden vorliebnehmen, und der Horizont eines mexikanischen Kochs ist noch immer mit Tortillas und Frijoles - schwarzen gedünsteten Bohnen - verbarrikadiert, die sich vor seinen kulinarischen Augen in derselben Mächtigkeit erheben wie der Popocatepetl vor den staunenden Augen der Reisenden. Wer sich indessen jahrelang in halbzivilisierten und wilden Ländern herumgetrieben, der betrachtet die Natur und seine eigene unmittelbare Umgebung mit ganz anderen Augen als der Bädekersche Dutzendtourist; er hat den Wert und die Bedeutung der einfachen und doppelten Sternchen vor dem Hotelnamen verlernt, er ist mit allem zufrieden, das man ihm bietet. - Man macht ja wahrhaftig diese Tausende Meilen weiten, langwierigen Reisen nicht, um sich, am Ziele angelangt, in einem prächtigen Hotel abfüttern zu lassen - man bringt ja doch nur seine Nächte dort zu, und für diese ist ja das bescheidenste Stübchen im Notfalle auch gut genug.
Das erste Hotel Mexikos, in der Calle de Plateros (Straße der Silberschmiede) im Herzen der Stadt gelegen, ist das Hotel Iturbide, wie man behauptet, der einstige Palast des ersten modernen Kaisers von Mexiko. Ein imposanter Bau mit mehreren Höfen, mehreren nach verschiedenen Straßen fahrenden Ausgängen und ein paar vortrefflichen Restaurants, bildet das Hotel Iturbide seit einer Reihe von Jahren den Mittelpunkt des gesamten Fremdenverkehrs. Die französischen und deutschen Touristen, die englischen Geschäftsreisenden, amerikanischen Eisenbahningenieure, Minenbesitzer und Spekulanten haben hier ihr Hauptquartier, und wäre nicht der jeder fremden Sprache unkundige Hoteldirektor im Despacho (Büro) und der stets im Halbschlaf versunkene indianische Portero hinter dem schweren großen Festungstore des Hotels, man könnte sich ebensogut in St. Louis oder San Francisco denken.
Aber auch auf den ersten Spaziergängen durch die große schöne Stadt wird man nur durch geringfügige Einzelheiten daran erinnert, daß man sich an der Grenze der Tropen von Zentralamerika, mehrere tausend Kilometer von den Zentren Europas oder der Vereinigten Staaten entfernt, befindet. Mexiko erinnert lebhaft an Turin, an Madrid, an Rom, an alles, nur nicht an jene ideale Stadt, als welche man sich Mexiko vorstellt, nachdem man die Geschichte Montezumas und der spanischen Eroberungen gelesen hat. Ja, würde die heutige Stadt durch ein Zauberstäbchen oder ein geographisches Tischleindeckdich zwischen Turin und Rom verpflanzt werden, der Reisende könnte es recht gut für Florenz halten, bis zu jenem Momente, wo er den Palazzo Pitti oder den Battistero besuchen wollte. Mexiko ist im Grunde genommen viel weniger charakteristisch als San Francisco oder New York oder New Orleans, und doch hält man es in Europa als das Nonplusultra einer interessanten, pittoresken Stadt. Man sucht es noch immer, nachdem man sich schon vielleicht tagelang im Herzen der Stadt aufgehalten hat. Es ist reizend, hübsch, malerisch, großstädtisch, aber es befriedigt nicht.
Die Ursache ist nicht schwer zu erraten. Sie liegt in der großen, ereignisreichen schmerzlichen Geschichte der Aztekenstadt. Mexiko wird als das Ägypten der neuen Welt betrachtet und seine Hauptstadt, die einstige Residenz Montezumas, als sein Kairo. Wie man die Geschichte Ägyptens kennt, so kennt man auch jene von Mexiko, man liest mit Staunen und hohem Interesse von den großartigen Palästen, den Tempeln und Pyramiden, die Cortez dort gefunden hat, man kennt aus Schilderungen und Bildern die Opfersteine, die Götzenstatuen, die Ruinenstädte Palenque, Uxmal, Mitla und vergleicht sie unwillkürlich mit Memphis und Theben. Und da das heutige Mexiko sich in der Tat mit den modernen Stadtteilen von Kairo um die Esbekieh und Schubra herum vergleichen läßt und, wie gesagt, lebhaft an die italienischen Großstädte erinnert, so hofft der Reisende, wie dort Triumphbogen, Statuen, Thermen und Götzentempel, so auch hier Ruinen, Überbleibsel der Aztekenzeit zu finden. Aber wie grausam und - ich kann wohl sagen - tief schmerzlich wird er hier in Mexiko enttäuscht! Selbst in dem mehrmals zerstörten Alexandrien stehen noch zum mindesten die Pompejussäule und ein paar Sphynxe, in Kairo bewunderte ich die wunderbaren sieben Moscheen der Kalifengräber, und man zeigte mir von Memphis doch zum wenigsten die kolossale Schuttberge der einstigen Weltstadt und den halb aus dem Schutte gegrabenen Götzen, der dort im Schatten schlanke hoher Palmen auf der Nase liegt.
In Mexiko ist von der Aztekenzeit nichts übrig, und von der einstigen Weltstadt ist im wahrsten Sinne des Wortes kein Stein auf dem anderen geblieben. Hat sich denn die Weltgeschichte dort in flüchtigen, an die Wand geworfenen Stereoskopenbildern bewegt, die ebenso rasch, wie sie gekommen, wieder verschwinden? War denn das Häusermeer Mexikos nur eine dünne Schicht flüchtigen Staubes, welche Cortez und Alvarado aus vollen Backen weggeblasen oder mit dem Ärmel weggewischt hatten? An derselben Stelle erhebt sich das neue, moderne, aller haltbaren Traditionen entbehrende Mexiko! Und so wandert man denn tagelang durch die strahlenden, modernen, hübschen Straßen dieser Stadt, ruhelos, unzufrieden und unbefriedigt, um erst des Abends vielleicht bei hellem Mondschein auf dem flachen Dache, der Azotea unseres Hotels, die weite Ebene im Geiste mit den Conquistadores zu beleben und mit den Werken jener noch im Unglücke großen Nation, die sie, eine Handvoll Leute, so gänzlich unterjocht und vernichtet haben! Dann erst, in diesen stillen Träumen, schuf ich mir die glänzende Inselstadt, die noch vor 370 Jahren, den Schilderungen der spanischen Geschichtsschreiber zufolge, an Pracht und Bauart mit Venedig wetteiferte; den Kaiserpalast, die Tempel und Pyramiden der Aztekengötter, mit einem Worte, den Schauplatz jener geschichtlichen und mythischen Persönlichkeiten, die uns heute leider nur mehr dem Namen nach erhalten sind: Montezuma, Axayacatl, Malindsche, Guatemozin und andere. Träume! nichts als Träume; denn die Wirklichkeit zeigt uns heute nur noch ein paar Skulpturen, im Museum von Mexiko aufgestellt oder in Kunstsammlungen der europäischen Großstädte verteilt.
Dort droben freilich, im Südosten der weiten Ebene und von Mondlicht gespensterhaft beleuchtet, erheben die einzigen vollwichtigen Zeugen der Vergangenheit ihre schneebedeckten Häupter: das Zwillingspaar des Popocatepetl und des Iztaccihuatl, die heute wie damals der ganzen Hochebene von Anahuac als Wahrzeichen dienen, heute noch in derselben Pracht und Herrlichkeit herüberstrahlen. Dort in dem Sattel zwischen den beiden mit ewigem Schnee bedeckten Bergen erblickten Cortez und seine kleine, fanatische, habgierige Soldateska zum erstenmal die weite, schöne Ebene und die Inselstadt Montezumas. Dort waren sie nach dem Blutbade von Cholula erschienen, um von dem Aztekenkaiser und seinem glänzenden Hofe gastfreundlich empfangen zu werden. Im Traume sehen wir die erstaunten, von der Pracht Mexikos überwältigten Krieger in die Stadt einziehen, um nach mehreren Monaten und nachdem sie Montezuma selbst auf hinterlistige Weise gefangengenommen, wieder daraus vertrieben zu werden. Nahe den zwei großen Pyramiden von San Juan de Teotihuacan wurden sie von den entrüsteten Indianern eingeholt und entrannen nur durch ein Wunder dem allgemeinen Blutbade. Erst nach einem Jahre kehrten sie nach Mexiko zurück. Im Dezember 1520 begannen sie die Belagerung, und im August 1521 waren sie endlich Meister der Stadt. Haus um Haus, Stein um Stein mußte von den Spaniern erobert werden; die Tempel und Paläste zerbröckelten unter ihrer Zerstörungswut, und mit deren Trümmern füllten sie die Kanäle und Hafenbassins.
So ist es denn kein Wunder, daß sich Mexiko als eine verhältnismäßig moderne Stadt entpuppt, mit hübschen, geraden Straßen, die einander in rechten Winkeln schneiden, wie etwa in irgendeiner der Städte Nordamerikas, alle von gleicher Breite, gleicher Länge und einer gewissen Einförmigkeit in ihrer hispano-italienischen Architektur, die nur durch die vielen Kirchen und einstigen Klöster, hie und da wohl auch durch ein Theater oder einen Privatpalast unterbrochen wird. Wenige Häuser Mexikos erheben sich über zwei Stockwerke, ausgenommen in den um den Hauptplatz liegenden Quartieren. Je weiter man sich von diesem Mittelpunkte der Stadt entfernt, desto niedriger und unscheinbarer und spärlicher werden die Gebäude, bis sie endlich von Gärten und Baumalleen und mit Kaktushecken eingefaßten Feldern verdrängt werden. Viele hübsche, imposante Plätze und Squares bringen eine angenehme Abwechselung in die Monotonie der Häuserwüste.
Der Hauptverkehr der Stadt konzentriert sich in jener vielfach an die Via Toledo von Neapel erinnernden Straße, welche die zwei größten und vornehmsten Plätze Mexikos, die Alameda und die Plaza Mayor, miteinander verbindet. Im oberen Teile Calle de San Francisco, im unteren Calle de Plateros genannt, enthält sie die schönsten und reichsten Kaufläden, die ersten Hotels, Cafés und Restaurants sowie ein paar der schönsten Privatpaläste. Ein Spaziergang durch die Calle de San Francisco ist zu jeder Zeit interessant, denn der Verkehr ist höchst belebt. Equipagen und vortreffliche Mietwagen - hier «Carruages de Lujo» genannt - rollen auf und nieder, elegante Damen in hübschen Pariser Toiletten, den schwarzen oder weißen Spitzenreboso über den Kopf geschlagen, machen hier ihre Einkäufe oder wandern vom täglichen Kirchenbesuche nach Hause; stolze Caballeros, in dem malerischen Nationalkostüm der Mexikaner, den breiten, silberbordierten Sombrero auf dem Kopf, den Säbel zur Seite und den unfehlbaren Revolver im Halfter, reiten auf tänzelnden, schönen Rossen vorüber; der Kleinhandel, die Straßenverkäufer, haben sich jeder Häusernische, jeder Toreinfahrt bemächtigt und bieten mit lauten Ausrufen ihre Waren, Zeitungen, kleine silberne Geschmeide, Lotteriebillette, Früchte, Heiligenbildchen feil. Der Strom der Passanten ist den ganzen Tag über - vielleicht mit Ausnahme der Mittagsstunden - äußerst lebhaft, ohne in jenes Stoßen, Schreien und Drängen auszuarten, welches das Straßenleben in italienischen und spanischen Städten charakterisiert. Auf den vortrefflichen Trottoiren umherwandelnd, blickt man zuweilen durch geöffnete Tore in weite, geräumige Höfe mit Säulengängen und Springbrunnen und kleinen Gärtchen oder Blumenbeeten in der Mitte; man sieht in den Kaufläden viele französische Bücher, gute Photographien der Naturschönheiten Mexikos, Gips- und Onyxreproduktionen der wenigen Denkmäler aus der Aztekenzeit, Schweizer Uhren, französische Bronzen, französische Galanterie- und Modewaren, aber wenig mexikanische Industrie. Die in die Calle de San Francisco mündenden Straßen sind ebenso breit und elegant, von ähnlichen imposanten Gebäuden eingefaßt wie die der Hauptstraße selbst. Hier die Fassade des San-Carlo-Hotels, dort die mit Rokokostuck überladene, aber dennoch überraschende Fronte des Iturbide-Palastes; ferner stattliche Kirchen und Theater, an deren Toren große Affichen die Vorstellungen der französischen Oper oder der mexikanischen Operette anzeigen. Eines der hübschesten Gebäude Mexikos ist auch der «Deutsche Club» mit seinem zu einem tropischen Garten mit Palmen und Platanen verwandelten Hofraum, mit den durch alle Stockwerke reichenden Arkaden, mit Lese- und Spielsälen. Die Franzosen besitzen in Mexiko ebenfalls einen schönen, auf der Plaza Mayor gelegenen Club.
Seltsamerweise ist ein Palais der Volksvertreter, das in anderen Städten doch gewöhnlich zu den hervorragendsten Gebäuden gehört, in Mexiko nicht vorhanden. Bis zum 22. August 1872 saßen die Diputados in einem großen Saale des Nationalpalastes. An dem genannten Tage brannte dieser Teil des letzteren nieder, und obschon nahe 18 Jahre seither vergangen sind, hat man in diesem Lande des «Mañana» noch keinen Palast für die Deputierten erbaut. Sie sitzen vorläufig in einem ehemaligen Theater, dem Teatro Iturbide. Wie passend war es, die Kammern in ein Lustspieltheater zu verlegen! Die Bühne wurde vermauert und vor ihr ein großer Thronhimmel aus dunkelrotem Samt mit dem in Gold gestickten mexikanischen Wappen errichtet; darunter steht ein weißlederner Armstuhl für den Präsidenten. Parkett und erster Rang enthalten die Sitze für die Deputierten.
Auf meinem ersten Spaziergang durch die Straßen Mexikos fielen mir doch die zahlreichen großstädtischen Einrichtungen auf, die wohl in den Städten Nordamerikas oder Europas begreiflich sind, hier aber schlecht mit der allgemeinen Misere in Stadt und Land harmonieren. Mexiko macht den Eindruck einer sehr wohlhabenden, wohllebigen, unter guter Verwaltung stehenden Stadt. Das Pflaster der Hauptstraßen und Plätze ist gut, an den Straßenecken findet man überall blaue Täfelchen mit dem Namen, hier allerdings sehr notwendig, da die einzelnen Strecken ein und derselben Straße häufig verschiedene Namen führen; die Häuser sind sorgfältig numeriert; Drähte der Telephon- und Telegraphenleitungen durchkreuzen die Straßen, und an Gaslaternen fehlt es in den belebteren Geschäftsvierteln auch nicht, obschon die Qualität des in Ermangelung von Steinkohlen aus Baumharz erzeugten Gases eine elende ist. Polizisten mit Revolvern und Seitengewehr wachen über den Verkehr; zahlreiche fließende Brunnen an Straßenecken und auf den Plätzen liefern hinreichend Wasser; ja es fehlt sogar an einer städtischen Feuerwehr nicht. In einem Lande, das seit seiner vor sechzig Jahren erfolgten Unabhängigkeitserklärung achtzig Revolutionen erlebt und dessen Regierung ebenso wie dessen Kredit in der Welt sich keines besonderen Rufes erfreut, sind solche moderne Errungenschaften - wenn man sie so bezeichnen kann - wohl bewundernswert. Aus diesen ewigen Bürgerkriegen, dieser Unsicherheit der Verhältnisse erklärt sich auch die gänzliche Abwesenheit einheimischer Industrie, die jedem Besucher Mexikos schon bei seinen ersten Spaziergängen durch die Stadt auffallen muß. Den Industrien geht es in der Welt ebenso wie den Pflanzen - auf den schlimmem Wetter und ewigen Stürmen ausgesetzten Strecken kann keine Pflanze festen Fuß fassen. Der Bewohner versucht es vergeblich, ihren Keim großzuziehen. Er pflanzt sie deshalb in Töpfe, und komme einmal ein paar friedliche, sonnige Tage, flugs trägt er sie in Freie, um sie der Sonnenwärme teilhaftig werden zu lassen. Ebenso in Mexiko bei den ewigen politischen Stürmen, welche durch das Land wüten, ist das bißchen Industrie aus der Zeit der spanischen Herrschaft längst zugrunde gegangen, und der Kaufmann importiert seine Waren, gleichsam in Blumentöpfen, aus dem Auslande, um sie in friedlichen Jahren in seinen Schaufenstern auszustellen. Aber selbst dort werden sie nicht in Frieden gelassen. Kolossale Einfuhrzölle hemmen den Güterverkehr, und sind die Waren in der Hauptstadt eingetroffen, so kommt die Regierung noch einmal, um die Kaufleute zu brandschatzen. So glänzend und großstädtisch die Kaufläden und Schaufenster in der Calle de Plateros, in dem Callejon da Spiritu Santo und anderen Straßen auch sein mögen, überall sieht der teuflische Bockfuß der Regierung darunter hervor.
Gerade während meiner Anwesenheit in der Hauptstadt erließ die Regierung ein Gesetz, demzufolge von sämtlichen Kaufleuten des Landes eine Steuer von 10 Prozent ihres gesamten Warenwertes sofort erlegt werden sollte. Am Abend nach meiner Ankunft witterte es nach einer neuen Revolution. Das Militär war in den Kasernen konsigniert, die Bürger standen in Gruppen auf Plätzen und Straßen zusammen und schimpften über den Präsidenten Gonzales; eine große Zahl der Kaufläden blieb mehrere Tage gesperrt, und die Handelswelt verweigerte die Zahlung. Allein es kam nicht zur Revolution. Die Regierung sah die Unmöglichkeit des Gesetzes selbst ein und ohne es ganz aufzuheben, drückte sie doch ein Auge zu. Die Kaufleute versteckten ihre Waren einfach auf Böden und in Kellern, ließen nur einen kleinen Teil in ihren Kaufläden und entrichteten nur für diesen ihren Obolus, indem sie den Vorschriften gemäß die entsprechende Anzahl Stempel kauften und an die betreffenden Waren aufklebten. So findet man denn heute auf jeder Uhr, jedem Ring, jedem Edelstein einen dieser fidibusartigen Stempelstreifen. Streichhölzchenbüchsen, Zigarrenkistchen, Schuhwichsschachteln, Heiligenfigürchen, Taschenmesser, Präservenbüchsen, alles trägt das lange, graugrüne Stempelschwänzchen, ja jede Bierflasche, jedes Seidlitzpulver ist damit überklebt, allerdings nur so leicht, daß der Stempel von dem einmal verkauften Objekt wieder losgelöst und auf ein anderes Objekt angeklebt werden kann. So umgeht die Handelswelt die horrenden Steuerauflagen der Regierung, und das Sprichwort «Ehrlich währt am längsten» hat in Mexiko unter solchen Verhältnissen gewiß keine Anwendung.
Dort, wo den Traditionen zufolge einstens der Kaiserpalast Montezumas, die Tempel und Pyramiden der aztekischen Götter gestanden haben, erheben sich auch heute die vornehmsten Gebäude Mexikos, einen weiten Platz einschließend, der an Ausdehnung und Großartigkeit wohl von wenigen Plätzen der europäischen Hauptstädte übertroffen wird. Architektonische Wunder vereinigen sich hier mit jenen der Antike, im Schatten subtropischer Gartenanlagen schlummern altmexikanische Opfersteine und Götzenbilder, das Regiment Gottes wie jenes des Menschen hat auf diesem Platze seine Tempel; echt großstädtischer, internationaler Verkehr in engster Verbindung mit dem typisch-mexikanischen Volksleben; Pracht und Reichtum als Nachbar der Armut; rege Tätigkeit, untermengt mit indianischer Trägheit und Lethargie. Die größten Gegensätze Mexikos stoßen hier aufeinander, ohne sich gegenseitig zu verdrängen, sondern im Gegenteil um ineinander zu dringen wie die Finger gefalteter Hände. Dazu ist dieser zum mindesten in der neuen Welt einzige Platz von einer Ausdehnung, welche all diesen Gegensätzen den weitesten Spielraum läßt.
Das vornehmste, durch Größe und Bedeutung alle anderen überstrahlenden Gebäude ist die Kathedrale, an derselben Stelle erbaut, auf welcher sich der Tempel des aztekischen Kriegsgottes Fitzliputzli erhob. 1530 wurde dieser zerstört, 1573 folgte auch die an seiner Stelle erbaute Kirche dem gleichen Schicksal, um für die gegenwärtige Kathedrale Platz zu machen, die erst hundert Jahre nachher, 1667, nach einem Kostenaufwande von 2 Millionen Dollars vollendet wurde. Die großartige, von zwei hohen Türmen überragte Fassade nimmt mit der an sie stoßenden grotesken Pfarrkirche, EI Sagrario genannt, die Nordseite der Plaza ein, aber der Kontrast zwischen dem edlen, himmelan strebenden Renaissancebau der Kathedrale und der mit einem kuriosen Gemisch von christlichen und aztekischen Ornamenten überladenen Kirche nebenan wird durch den herrlichen, schattenreichen Blumengarten, der einen Teil der Plaza vor ihnen einnimmt, etwas gelindert. Bis vor kurzem war der Vorplatz dieser beiden Kirchen durch schwere, an Steinpfeilern aufgehängte Ketten eingeschlossen und bildete den Sammelplatz jener indianischen Faulenzer, Leperos (Aussätzige) genannt, welche für Mexiko dasselbe sind, was die Lazzaroni für Neapel: die zudringlichsten Bettler, die abgefeimtesten Taschendiebe und dabei die schmutzigsten, zerlumptesten Gestalten, die man sich überhaupt vorstellen kann. Maximilians wohltätiger, von vielen Mexikanern heute sehnlichst zurückgewünschte Regierung machte dem ein Ende, und während die Andächtigen auf ihrem Kirchenwege früher bemüßigt waren, zwischen diesem Auswurf der ärmsten Bevölkerung hindurchzuschreiten, um in das Gotteshaus zu gelangen, ist nun, wie gesagt, an ihre Stelle ein blühender Garten getreten, mit Blumenbeeten, Springbrunnen und einem Musikpavillon (hier Zocalo genannt), wo mehrmals wöchentlich eine der vorzüglichen mexikanischen Militärkapellen öffentliche Konzerte veranstaltet.
Das Innere der Kathedrale ist heute, obschon sie in den vielen Revolutionen mehrfach geplündert und ausgeraubt wurde, noch immer imposant und reich an Kostbarkeiten. Ich kann mich, mit Ausnahme von St. Peter in Rom, St. Paul in London und der Aja Sophia in Konstantinopel, keines Gotteshauses erinnern, das durch seine Ausdehnung und Pracht einen so großen Eindruck auf mich gemacht hätte wie die Kathedrale von Mexiko. Sie ist edler, heiterer, wenn man will, himmlischer als die düsteren gotischen Kathedralen Europas, und der reiche Renaissancestil harmoniert auch viel besser als der gotische mit den vielen Vergoldungen, mit den glanzvollen Seitenaltären, dem prächtigen Chor, den Statuen und Grabmälern. Die Fresken an der Decke und in der hohen, äußerst graziösen Kuppel wurden von trefflichen spanischen Meistern gemalt, wie man denn überhaupt in vielen Kirchen Mexikos heute noch kostbare Gemälde aus der spanischen Glanzperiode vorfindet. Damals war auch Mexiko als Kolonie auf seiner Blüte; seine beispiellos reichen Minen lieferten Silber und Gold für die ganze Welt; der Klerus besaß ungeheure Schätze, und es fehlte somit nicht an den Mitteln, die Gotteshäuser auf das glanzvollste auszustatten. Die Balustrade, welche den Chor der Kathedrale umgibt, enthält so viel Gold, daß man vor kurzem ihr Gesamtgewicht in gediegenem Silber für sie bezahlen wollte - nicht weniger als 26.000 Kilogramm! Der Reichtum des Hochaltars wurde früher von keinem anderen der Welt übertroffen, und noch jetzt enthält er massive goldene Leuchter und Gefäße, goldene, mit kostbaren Edelsteinen überladene Heiligenfiguren und so weiter. Die Statue der Gottesmutter, welche über eine Million Dollar Wert repräsentiert, ist heute allerdings ebenso verschwunden wie die goldene Lampe des Hochaltars, deren Gewicht an Gold allein jenem von 70.000 Dollar gleichkam. Die Revolution, die Kriege haben diesen Kirchenschätzen überall ein Ende bereitet, und nur wenige Gotteshäuser, wie zum Beispiel jenes von San Guadelupe in dem gleichnamigen, nahe der Hauptstadt gelegenen Dorfe, entgingen dank der Heiligkeit und Wunderwirkung ihrer Schutzpatrone der allgemeinen Plünderung.
Der größte Schatz der Kirche oder doch zum mindesten ihr berühmtester befand sich noch gelegentlich meines letzten Besuches Mexikos nicht im Innern, sondern am Fuße des westlichen Turmes in vertikaler Lage eingemauert, nämlich der altaztekische Kalenderstein mit seiner merkwürdigen, allgemein bekannten Einteilung. Ich hatte mir nach den vielen in europäischen Museen befindlichen Nachbildungen den Stein viel kleiner gedacht. Allein vor ihm stehend, reicht ein Mann von gewöhnlicher Größe kaum bis zum Mittelpunkt der Kreisteilung. Seither ist der Stein nach dem Nationalmuseum transportiert worden.
Die Besteigung eines der beiden 200 Fuß hohen Türme wollte ich mir schon deshalb nicht entgehen lassen, weil ich diesmal das herrliche Zwillingspaar, den schneebedeckten Popocatepetl und Iztaccihuatl, noch nicht gesehen hatte. Ich war eine Woche in der Stadt gewesen, war täglich morgens und abends auf die Azotea des Hotels hinaufgestiegen, hatte Ausflüge nach allen näheren und entfernteren Aussichtspunkten unternommen, aber stets vergeblich. Die beiden Bergriesen waren und blieben in dichten Nebel gehüllt, und auch vom Turm der Kathedrale waren sie nicht zu entdecken, als ob sie, wie alles andere aus der Aztekenzeit, auch nur eine Mythe wären oder als ob Cortez auch sie abgetragen und zerstört hätte. Aber die Aussicht auf das Weichbild der Stadt und die graue Ebene von Anahuac bietet dem Touristen dafür desto reichlichere Entschädigung.
Ich stand da oben unter dem glockenförmigen Dach des östlichen Turmes in beiläufig derselben Höhe und an demselben Orte, wo vor 370 Jahren Fernando Cortez und sein großer Gastgeber, Kaiser Montezuma, zusammen standen und der letztere dem tollkühnen Spanier die Stadt zum ersten Male zeigte. Allerdings standen sie damals auf dem Plateau einer Götzenpyramide, aber der Anblick der ganzen Umgegend war darum nicht minder großartig und schön als heute. Zu Füßen der Kathedrale der mächtige Square, von dessen Mittelpunkt ein Dutzend Schienenstränge der Tramway nach allen Teilen der Stadt auslaufen; gerade breite Straßen durchschneiden das weite, weißlichgelbe Meer der Häuser mit ihren flachen Dächern, hie und da von Plätzen mit Parkanlagen, von Gärten und Alleen unterbrochen und überhöht von den Türmen und Kuppeln der zahlreichen Kirchen, von welchen allerdings viele ihre einstige Bestimmung verloren haben und statt dem Gott der Götter heute dem Mars, der Klio und anderen dienen. Die republikanische Regierung verwandelte sie in Spitäler, Kasernen, Bibliotheken, Waffensäle.
Läßt man den Blick über die wie auf einer Tischfläche ausgebreitete Umgebung der Stadt hinausschweifen, so gewahrt man die braunen Steppen und grünen Felder, vielfach von Acequias (Wasserkanälen) und Fahrwegen durchzogen, an welche sich die von üppigem Baumwuchs überschatteten Mauern mancher Städte und Dörfer anschmiegen; endlich die ausgedehnten Seeflächen, in dem besonders am Morgen über das Tal gebreiteten leichten Nebel halb verschwimmend. Etwa auf 20 englische Meilen in der Runde wird der Ausblick durch die wundervollen blauen Vorberge der Sierras abgeschlossen, und gegen Südosten erheben sich die Wahrzeichen von Mexiko, die beiden schneebedeckten höchsten Berge Zentralamerikas, in die Wolken. Die uns am nächsten liegenden Hügel sind jene von Guadalupe im Norden, an deren Fuß sich der berühmteste gleichnamige Wallfahrtsort der Mexikaner befindet, und der Hügel von Chapultepec im Süden, dessen Spitze von einem Kaiserpalast gekrönt wird - der Palast Maximilians auf den Grundmauern jenes von Montezuma!
Bei der Betrachtung dieses weiten, 7.500 Fuß über dem Meere gelegenen Talbeckens kann man sich der Überzeugung nicht erwehren, daß die alten Chroniken der Eroberer die Wahrheit sprachen, wenn sie Mexiko als eine von Seen umgebene Inselstadt schilderten. Damals hing dieses von Kanälen durchzogene amerikanische Venedig mittels fünf die Seen durchschneidende Dämme mit dem Festlande zusammen, und die Stadt war sehr häufig argen Überschwemmungen ausgesetzt. Man kann deshalb Cortez zu seinen Städtegründungen nicht gerade beglückwünschen. Seine erste Stadt, Veracruz, legte er an dem flachesten und ungesündesten, dabei auch für Schiffe unzugänglichsten Teile der Küste an, und wenn es für die Erbauung der Hauptstadt Mexiko in dem sumpfigen Tale von Anahuac irgendwelche Entschuldigungen gibt, so ist es nur das Baumaterial, das sich natürlich in der auf Grund und Boden zerstörten Aztekenstadt in reichlicher Menge vorfand, gerade wie in Athen, in Alexandrien und Rom.
Aber dieser kleine Vorteil sollte den späteren Generationen wieder unendlichen Schaden eintragen, denn zu wiederholten Malen traten die Seen aus, überschwemmten die Stadt und bemüßigten die Einwohner, in den Straßen mittels Kähnen zu verkehren, geradeso wie zur Aztekenzeit. Ein Denkmal an die große Überschwemmung von 1629 ist noch heute in Gestalt eines grimmigen vergoldeten Löwenkopfes vorhanden, der in der Höhe von 6 Fuß über dem Boden - den Wasserstand bezeichnend - an einer Ecke der Calle San Francisco und des Callejon del Espiritu Santo angebracht ist. Ein paar Erdbeben haben es die Mexikaner zu danken, daß die Seen in der Stadt zurückgetreten sind, aber noch heute ist der Spiegel nur wenige Fuß tiefer als die Stadt und die Gefahr der Überschwemmung immer noch vorhanden.
Rings um die Kathedrale gruppieren sich die hauptsächlichsten Regierungsgebäude von Mexiko - ihr gegenüber, die Plaza Mayor bildend, der Palacio del Ayuntamiento, das Rathaus der Stadt, die weit über das Trottoir vorspringende Front ganz nach spanischer Sitte von Säulen getragen. Die dadurch gebildeten Arkaden oder Portales laufen der ganzen Südseite der Plaza, auch unter dem Französischen Klub und den anderen -Gebäuden entlang und bilden mit ihren zahllosen kleinen Verkaufsständen und Warenlagern, mit den vielen Pulquezelten, den dichten, hier auf und ab wogenden Menschenmassen der verschiedensten Stände wohl den Mittelpunkt des Verkehrs. An der Westseite der Plaza erhebt sich das Gebäude der Monte de piedad (die Pfandleihanstalt) und ihr gegenüber, die ganze Ostseite der Plaza einnehmend, die langgedehnte niedrige Front des Palacio nacional, des Regierungspalastes der mexikanischen Republik. Wenn sich das kasernenartige Gebäude mit seiner an 700 Fuß langen Hauptfront und seinen vielen Eingängen überhaupt durch etwas auszeichnet, so müßte wohl zunächst seine enorme Größe hervorgehoben werden. Die Gesamtlänge des Palastes mit seinen Seitenfronten beträgt nicht weniger als einen Kilometer! An den weitgeöffneten Toren kauern nachlässig zerlumpte Soldaten; Offiziere in leichter Campagneuniform lungern zigarettenrauchend auf den Bänken, in den weiten Höfen drängen sich Minister, Senatoren, Beamte, Hacienderos, Indianer in buntem Durcheinander. Das ganze Gebäude erweckte in mir lebhafte Erinnerungen an die Ismailia in Kairo, an den Bardo in Tunis, an die Ministerien in Constantinopel, an den Palacio del Gobierno in Buenos Aires, denn ein eigentümlicher, ziemlich gleichmäßiger Charakter hängt all diesen halbzivilisierten Regierungen an; und es hat den Anschein, als würde hier viel mehr konspiriert denn regiert werden - als würden die Entscheidungen im Foyer statt in den Ratssälen und Bureaus getroffen werden. Leider ist dieses in dem unglücklichen Mexiko bis auf die jüngste Zeit nur zu wahr gewesen! Wer weiß, ob dieses Mexiko nicht viel zufriedener und ruhiger war, als sich noch an der Stelle des Palacio nacional der Palast Montezumas erhob!
Abgesehen von den Bureaus und Empfangssälen des Präsidenten, befinden sich in den weiten Räumen auch sämtliche Ministerien, die Staatskasse, das meteorologische Observatorium und die Säle des Senats. Der eigentliche Sitzungssaal der Senatoren ist höchst einfach und anspruchslos. Besser ausgestattet ist das Kabinett des Präsidenten. Zum mindesten sind dort die Möbel nicht so lahm und verschossen, die Teppiche nicht so abgenutzt, die Vorhänge nicht so verstaubt und vergilbt wie in den anderen Räumen dieses mexikanischen Olymps. Im Kabinett des Sekretärs hängt das lebensgroße Porträt des Jupiter Gonzales selbst - eine mächtige Gestalt in schwarzem Salonanzug, das breite, rote Band eines dunklen mexikanischen Ordens auf der Brust.
In einem Annex des Nationalpalastes befindet sich das nach echter Türkenmanier geleitete Postamt sowie der botanische Garten, der unter allerhand tropischen Gewächsen auch den berühmten arbol de las manitas, den «Baum der kleinen Händchen» (Cheirostemon platanifolium der Botaniker), enthält. Die eigentümliche Pflanze wurde unter dem Namen Tzapalilqui Xochitl von den Azteken als heilig verehrt, ja einer ihrer Kaiser führte ihrethalben mit einem anderen mexikanischen Herrscher einen langwierigen Krieg. Ihr Name rührt von der großen hellroten Blüte her, deren Blätter- und Blütenstengel die Form einer zarten Hand mit etwas einwärts gekrümmten Fingern besitzt. Der Baum ist in Mexiko äußerst selten, ja man behauptet, daß außer dem im botanischen Garten befindlichen nur noch ein zweiter dieser Gattung, und zwar in den Bergen von Toluca, zu finden sei.
Mehr noch als die Gebäude, welche die große Plaza Mayor umgeben, interessierte mich das großartige, höchst bewegte und bunte Volksleben, das sich unter den Bäumen des Gartens und unter den Arkaden des Municipiums tagsüber abspielt und bis in die Nacht hinein andauert.
An Festtagen ist auf dem weiten Platz unter dem das ganze Jahr über blauen, wolkenfreien Himmel eine Art Jahrmarkt etabliert - eine Eigentümlichkeit der mexikanischen und westindischen Städte, der ich in ganz Westindien, Havanna, Caracas, Trinidad, ja selbst in den am mexikanischen Golf gelegenen amerikanischen Städten begegnete und die denselben viel Leben und fremdartigen Reiz verleihen. Eine lange Reihe von Limonadebuden, Pulqueschänken und ärmlichen Restaurants zieht sich längs der Südseite der Plaza hin, ja selbst vor dem Sagrario, der Pfarrkirche, haben sich diese Dulcerias und Pulquerias (von Pulque, dem Aloesaft bereiteten mexikanischen Nationalgetränk) etabliert, und weiter hin steht zeitweilig sogar ein amerikanischer Zirkus, der neben dem Gotteshause hingebaut wurde.
Die Pulquerias bestehen meist aus leichten, luftigen Hütten aus Rohrgeflecht mit Leinwanddächern, nach drei Seiten hin offen. Im Hintergrunde befinden sich einige kolossale Tonurnen von hübscher antiker Form, in lose Sandpyramiden eingebettet, die von den nichts weniger als hübschen und jungen Pulqueweibern fleißig mit Wasser übergossen werden, um durch die Verdunstung das in den Tonurnen enthaltene Getränk kühl zu halten.
Ein paar Tische und Stühle vervollständigen die Einrichtung. Die Inhaber dieser Pulquerias sind meistens Indianer, und daß selbst unter ihnen ein bißchen Eitelkeit und Geschäftsstolz bestehen muß, geht aus den farbenreichen Firmentafeln hervor, die über diesen Hütten prangen: «La mas antigua Casa», die älteste Bude dieser Art und so weiter.
Große Vermögen scheinen sich dieselben augenscheinlich nicht zu erwerben, denn nur an besonders heißen Tagen treten Durstige der niederen Stände ein, um ein Glas Pulque oder andere der in der Tat köstlichen Fruchtwässer Mexikos, aus Ananas, Orangen, Zitronen, Mangos und dergleichen zubereitet, zu verlangen. In der Zwischenzeit lungern die Weiber im Schatten ihrer Buden, die unvermeidliche Zigarette in den Fingern oder mit dem Fange jener kleinen sechsfüßigen Menschenfresser beschäftigt, die hier ein Gemeingut von groß und klein, jung und alt zu sein scheinen. In der Mitte des Platzes befindet sich, wie erwähnt, die Zentralstation der Pferdeeisenbahnen, welche, obschon erst seit einigen Jahren bestehend, doch schon einen großen Teil des Stadtverkehrs absorbieren. Nicht nur Menschen, auch Waren werden mittels eigener Lastzüge hier befördert, ja sogar Leichenbegängnisse gehen per Tramway! So weit haben wir es in Europa doch noch nicht gebracht.
Hesse-Wartegg, Ernst von
Mexiko. Land und Leute. Reisen auf neuen Wegen durh das Atekenland
Wien ud Olmütz 1890