Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1888 - Ernst von Hesse-Wartegg
Auf den Popocatépetl

Es war drei Uhr morgens, als ich bei der bittersten Kälte erwachte. Die Indios lagen noch immer regungslos in ihren Decken. Das Feuer war ausgebrannt, sogar die Asche schon kalt. Mit Mühe rüttelte ich sie aus ihrem Schlafe. Die Pferde waren bald wieder gesattelt, und nachdem wir uns noch durch frischen heißen Kaffee und einen tüchtigen Schluck Aguardiente [Schnaps] gestärkt hatten, ging es wieder vorwärts, diesmal, um die Spitze des Vulkans zu erreichen.
   Für den ersten Kilometer ritten wir noch durch den Fichtenwald; aber als wir eine breite, tiefe Barranca [Schlucht] durchritten und die jenseitige Schluchtwand erklettert hatten, befanden wir uns schon in dem tiefen, losen, schwarzen Sand, der den Fuß des eigentlichen Vulkankegels umgibt. Nicht ein einziger Baum wagt sich über die Waldgrenze hinaus; mit scharfem Rande hört hier der Baumwuchs vollständig auf, und nur hie und da zeigten sich noch Moose und buschige Grashalme als letzte Reste der Vegetation. Unsere armen Pferde sanken fußtief in den losen Sand; kaum konnten sie einige Schritte vorwärts waten, ohne zu rasten. Ihre blutunterlaufenen Nüstern waren weit geöffnet, die Augen traten aus den Höhlen, und nur mit Anstrengung konnten sie in dieser dünnen Luft Atem schöpfen. Es war in der Tat zum Erbarmen, allein wir bedurften später aller unserer Kräfte zu sehr, um jetzt schon abzusteigen. Mein Mozo [Bursche], den ich auf den trostlosen Zustand der Tiere aufmerksam machte, meinte nur: »Es wird schon gehen, nur langsam vorwärts, poco-a-poco«, so dass wir nachher den Vulkan scherzweise den Poco-apococatépetl nannten. Zwei Stunden ging es so mühselig aufwärts, und ich weiß nicht, ob die Pferde mehr leiden konnten als ich, während ich Zeuge und gleichzeitig die Ursache ihrer jammervollen Anstrengung war. Endlich erreichten wir die dunklen, La Cruz genannten Felsen, bei welchen die Schneegrenze beginnt. Ein schwarzer verhärteter Lavastrom zieht sich von hier in gerader Linie den Berg hinab, gegen Puebla zu, wie ein Rückgrat aus der ihn umgebenden vulkanischen Asche hervorragend. An seinem obersten Ende steht ein hohes schwarzes Kreuz, La Cruz, das von den Minenarbeitern zum Andenken an die zahlreichen Unglücksfälle errichtet wurde, mit denen bisher das Gewinnen des Schwefels verbunden war. Manche waren auf der glatten Schnee- und Eisfläche des Kegels ausgeglitten und Tausende Fuß hinabgekollert, andere waren oben im Krater vor Müdigkeit eingeschlafen, um nie wieder zu erwachen, wieder andere waren von wütenden Stürmen überrascht worden oder hatten im dichten Nebel den Weg verloren und waren irgendeinen Felsen herabgestürzt. Nein, so gefahrlos ist die Besteigung des zweithöchsten Berges Nordamerikas nicht!
   Hier stiegen wir endlich von den ermatteten, gänzlich erschöpften Tieren und sandten sie unter Begleitung des Peón nach Tlamacas zurück. Nun kam die Reihe an uns. Ich schnallte mir nochmals meine Ledergamaschen gehörig um, während Diego seine Beine und Füße mit dicken wollenen Fetzen umwickelte, so dass sie bald aussahen, als leide er unter Elephantiasis. Bevor ich die dunkle Schneebrille aufsetzte, um die Besteigung über die schmerzhaft blendenden, glatten Schneeflächen fortzusetzen, warf ich noch einen Blick um mich, denn wer weiß, ob nicht schon in der nächsten Stunde eine Wolke das herrliche, unbegrenzte Panorama wieder verdecken und das offene Buch von Mexiko, das nun aufgeschlagen zu meinen Füßen lag, wieder zuklappen würde! Wir waren so hoch, dass wir auf die schneeigen Brüste, auf die kolossalen Formen der Mujer blanca schon herabsehen konnten! Weit draußen in der farbenreichen Ebene lag wie ein Pygmäendörflein die Halbmillionenstadt, mit einem leichten Wölkchen über ihr. Zu ihren Seiten aber wie kleine Spiegelscherben die fünf großen Seen – Hunderte von Städten und Dörfern und Bergen und Flüssen lagen wie eine bunt gemalte Landkarte ganz flach zu Füßen des Berges, und in weitester Ferne begrenzte die hohe Küstenkette von Orizaba und Jalapa das Panorama - eine Landkarte im Maßstabe 1:1 gezeichnet und eine Fläche vielleicht 10.000 Quadratkilometern umfassend!
   »Llegamos Señor Caballero!« Diego weckte mich aus meiner Verzückung, und wir begannen den Aufstieg. Während der ersten halben Stunde wechselten Schnee und vulkanische Asche. Trotz meiner Schneegläser waren die Schneeflächen so blendend, dass ich mich nach der dunklen Asche sehnte, und befand ich mich auf dieser, so sanken meine Füße so tief ein, dass ich froh war, wieder auf den Schnee zu kommen. Je höher wir emporkamen, desto schmerzlicher, beschwerlicher war jeder Schritt, und ich musste nach je fünf, sechs Schritten stehen bleiben, um Atem zu schöpfen, der aber dennoch ausblieb.
   Ich war noch nie auf einer solchen Höhe gewesen, zum ersten Mal empfand ich den stechenden Schmerz in der Brust, das ungemein heftige Pochen des Herzens, einen Druck auf die Schläfen, als wollte mein Schädel zerspringen. Aber auf halbem Wege umkehren? Nimmer. Also vorwärts! Ich vermeinte stundenlang gestiegen zu sein, und die Uhr sagte mir, es sei nur eine Stunde vergangen! Jeden Augenblick blickte ich aufwärts, um den zackigen Rand des Kraters zu suchen, diese nackten Felsen auf 17.000 Fuß [5.700 m; nach modernen Messungen auf knapp 5.400 m] Höhe, die mir jetzt als mein einzig ersehntes Paradies galten, aber je höher wir stiegen, desto weiter, einsamer, eintöniger dehnten sich die blendenden Schneeflächen ohne Grenzen! Schließlich verfiel ich in eine Art stumpfen Brütens, die Fassungs- oder, wenn man will, Denkkraft war geschwunden, ich sah nichts als den glatten, an der Oberfläche gefrorenen Schnee vor mir und die dicken Beine Diegos, in dessen Fußstapfen ich meine Füße setzte. An Gefahren dachte ich nicht, und doch drohte mit jedem Schritte Verderben! Wäre einer von uns ausgeglitten, er wäre unrettbar den steilen, Tausende Fuß tiefen Abhang herabgekollert und unten als Leiche angekommen. Gerade eine Woche vorher war dies einem Peón passiert, und der arme Teufel war von seinen Gefährten an derselben Stelle verscharrt worden. Er hatte noch nicht einmal sein hölzernes Kreuz bekommen.
   Immer weiter, immer höher! 14-, 15-, 16- bis 17.000 Fuß; und immer noch kein Krater! Es war mir auch gleichgültig geworden – ich hatte die Empfindung halb eingebüßt. Nach je sechs bis zehn Schritten blieben wir beide unwillkürlich stehen, um Atem zu schöpfen, die aufs höchste gespannten Nerven zu beruhigen, dann ging es wieder vorwärts, ohne dass der glatte, glitzernde Schnee irgendwelche Unterbrechung, Felsen, Lawinenstreifen, Risse gezeigt hätte. Plötzlich verspürte ich starken Schwefelgeruch, und in demselben Augenblick rief Diego mir zu: «Aquí está el cráter!«
   Mit zwei Sätzen stand ich neben Diego, und unwillkürlich fasste ich schutzsuchend seinen Arm, als meine vom Schnee geblendeten Augen den für den ersten Moment unabsehbar tiefen, schwarzen und weiten Schlund erblickten. Dann musste ich die Augen schließen und sank geblendet, ermüdet, von Schwindel erfasst zu Boden. Ein paar Cocablätter, die mir Diego reichte und die ich kaute, schienen mich bald zu erfrischen, und ich konnte nun ruhiger, wenn auch unter beständigen heftigen Schmerzen an den Schläfen und in der Brust das großartige Naturwunder erfassen. Ein Riesenkessel von elliptischer Form, fünf Kilometer im Umfang und 300 Meter tief! Vom Fuße diese gewaltigen Berges gesehen, nahm sich der Gipfel fast wie eine scharfe, klar gegen den Himmel abstechende Spitze aus, und nun sah ich, dass der Umfang des Kraters allein fünf Kilometer betrug! Fast senkrecht fallen die in allen Farben des Regenbogens prangenden Basaltwände in die Tiefe des Feuerschlundes hinab, heller Schwefel sitzt in großen Massen an allen Rissen und Spalten, Rauch und Wasserdampf, geschwängert mit Schwefel, steigt aus den Hunderten von Solfataras, über den ganzen Krater verteilt, herauf und sammelt sich in einer Wolke, welche wie eine Krone hoch über dem Krater lagert.
   Stoßweise zischt und heult der Dampf aus den Ritzen dieser Teufelsküche, und der Hexenlärm wird durch das von den großartigen Kesselwänden zurückprallende Echo noch verstärkt. Fast wage ich nicht, über den aus losem Sand bestehenden Rand des Kraters hinab bis auf den Boden des Schlundes zu blicken. Selbst der Kühnste dürfte hier auf der schmalen Kante des Kraters erbeben, wenn er auf der einen Seite zu seinen Füßen diesen Riesenkrater mit seinem tobenden Innern, auf der anderen die Oberfläche der Erde ein paar Kilometer tief unter sich erblickt! Schüchtern gleitet der Blick die vertikalen Basaltwände, diese einstige Bahn des feuerflüssigen Erdinnern, hinab. Drunten füllt ein See mit milch-grünem Wasser den Kraterboden, während rings um ihn die Solfataras heiße Dämpfe aushauchen mit solcher Gewalt, dass sie große Felstrümmer emporheben. Rings um diese Sicherheitsventile der Erde hat sich in großen Mengen und phantastischen Formen hellgelber Schwefel abgesetzt. Der heiße Hauch dieser Respiradores dringt bis zu uns herauf und lässt den schneeigen Hermelinmantel, welcher die Schultern des Popocatépetl bedeckt, nicht bis an den Krater selbst gelangen. In Massen von sechs bis zehn Fuß liegt der Schnee hier an den zackigen Felskanten, ja seine vereiste Decke tritt über die Schneewand hinweg, aber der heiße Dampf zischt diesem eisigen Mantel ein »Bis hierher und nicht weiter!« zu. Gegen Westen erhebt sich der Rand des Kraters noch um ein beträchtliches Maß über unseren Standpunkt, und dieser bisher unerstiegene und auch unersteigbare Punkt, der Puco Mayor, ist der höchste des Popocatépetl, jener, auf welchem wir uns befanden, wird Espinazo del Diablo, des Teufels Rückgrat, genannt.
   Während ich bewundernd einige Aufnahmen des Kraters machte, zog sich ein Ungewitter zusammen. Diego, ein alter erfahrener Volcanero, meinte, es würde nicht lange anhalten, und wir müssten jedenfalls den Sturm vorüberziehen lassen, bevor wir etwas Weiteres unternähmen. In eine Höhlung der Kraterwand gekauert, brauchten wir in der Tat nicht lange zu warten. Dumpfes Grollen und betäubender Donner in den Tiefen des Vulkans verkündeten das Nahen der Borrasca. Der Dampf und Rauch blieb im Krater liegen, und zeitweilig schossen gelbe und blaue Flammen zischend aus den Schlünden der Solfataras. Die Hitze in unserem Schlupfloch wurde unerträglich, und doch blies über uns eisiger Sturm und trieb dichte Schneeflocken vor sich her, die, in den Kraterbereich kommend, sofort schmolzen. Ich hatte ein ähnliches, grauenhaftes Schauspiel im Jahre 1880 auf dem Vesuv erlebt, aber hier saß ich 14.000 Fuß höher an der Innenwand des Kraters!
   Niemals werde ich die bange Stunde vergessen, die ich hier oben, eingeschachtelt zwischen den eisigen Massen ewigen Schnees, auf einem der höchsten Berge der Welt und gleichzeitig am Rande des feurig-flüssigen Erdinnern, zubrachte. Aber der Moment hatte doch seine heitere Episode. Diego, der sehr über Durst klagte, zog plötzlich, mit einem zaghaften Seitenblick auf mich, eine schon halb entkorkte Champagnerflasche aus der Tasche, die er aus meinem Vorrat von Tlamacas mitgenommen hatte und die ihres Inhalts schon zur Hälfte entledigt war. Zaghaft reichte er sie mir, und der herzhafte Schluck tat mir auch ganz wohl. Wir benutzten die leere Flasche, welche die Vignette Perier Jouet, Epernay, trug, um ein Stück Papier mit unseren Namen und Datum hineinzuschieben und am Grunde der Felsspalte zurückzulassen. Wer sie wohl gefunden haben mag?
   Es erschien mir kaum glaublich, dass hier auf dieser eisigen Höhe von 17.800 Fuß menschliche Wesen wochenlang leben und arbeiten sollten! Und doch, hier waren die Beweise: eine Tornamalacate, eine über den Kraterrand hinwegreichende Winde mit dem Seil und Kübel, dem Caballo de las minas, zum Herablassen der Arbeiter und zum Heraufziehen des Schwefels. Hier lagen auch die Petates, geflochtene Säcke, in welchem der Schwefel die steile Bergwand bis an die Schneegrenze hinabgeschleift wird. Schon seit zwanzig Jahren beutet General Ocha diese höchsten Schwefelminen der Erde aus. Die Volcaneros arbeiten, wann immer sich eine hinreichende Menge Schwefel abgesetzt hat, abwechselnd eine Woche im Krater und erholen sich darauf eine Woche im Rancho von Tlamacas. Eine Woche lang im Krater des Popocatépetl! Der Gedanke allein macht uns schaudern. Die Gefahren für Gesundheit und Leben sind so groß, dass sich die Volcaneros, durchwegs Indianer, ihre Arbeit auch teuer in Gold bezahlen lassen, um nachher selbst einen teuren Tribut an die Natur zu zahlen. Sie leiden schrecklich an ihren Atmungsorganen. Sie verlieren die Zähne und erfreuen sich in der Regel ihres Erwerbes nicht lange. Sie sind an die ungemein verdünnte Luft so gewöhnt, dass sie den Aufenthalt auf dieser Höhe – fünfeinhalb Kilometer über dem Meeresniveau – leichter ertragen, aber für einen Weißen würde das Wagestück, eine Nacht hier zuzubringen, wohl verderblich werden. Vor einigen Jahren bezahlte es ein Amerikaner namens Conkling mit dem Leben.
   Plötzlich, wie das Unwetter gekommen, zog es auch wieder vorüber, und wir krochen aus unserem Versteck. An diesem Tage mochte ich wohl auf Gottes weiter Erde der einzige Mensch gewesen sein, der sich dem Firmament auf dieser Höhe genähert, es sei denn, dass ein zweiter Humboldt den Chimborazo, eine zweiter Schlagintweit an demselben Tage die Himalayaspitzen erstieg. 17.884 Fuß über dem Meer, das 200 Kilometer östlich von mir den Kontinent bespülte, und das ich zur Seite des weißen Zuckerhutes des Orizaba in der weitesten Ferne zu unterscheiden glaubte! 3.000 Fuß höher als der Montblanc, einer der höchsten Erhebungen des Erdballs. Und doch, als ich meine Blicke gegen den Himmel erhob, gewahrte ich gerade über mir in stolzem Bogen ruhig einen Adler kreisen. Wie arm und unbehilflich erschien ich mir ihm gegenüber! Hätte ich doch seine Flügel für einige Minuten gehabt! Ich hätte sie wahrhaftig nicht benutzt, um seine Höhen zu erreichen, sondern um auf die bequemste und schnellste Weise aus der Polarregion, in der ich mich befand, wieder in die Tropen zu meinen Füßen zu gelangen.
   Polarregion und Tropenregion, beides, mit allem, was dazwischen liegt, auf dem kleinen Stück Erde von wenigen Kilometern Ausdehnung! Der Reihe nach hatte ich in zwei Tagen alle Zonen der Erde durchstiegen. Wollte ich dasselbe auf der Erde ausführen, ich hätte von Amecameca aus eine Reise von 4.000 Kilometer direkt nördlich ausführen müssen. Den Meridian des Popocatépetl, die 99° westlicher Länge, zu dieser Reise benutzend, hätte ich in Mexiko die Tropen, in Texas die Kakteen, in Iowa und Missouri die Weizenregion, an den kanadischen Seen die Waldregion, an der Hudson Bay die Grenze der Vegetation erreicht, und den ewigen Schnee, den ich hier zwanzig Kilometer von Amecameca fand, hätte ich in den eisigen, unzugänglichen Regionen des Baffinlandes suchen müssen!
   Diese Betrachtungen stellte ich allerdings erst nachher an. Während ich droben auf der scharfen Kraterkante zwischen Eis und Feuer umherbalancierte, war mein armer Kopf wahrhaftig hierzu nicht angetan. Es fröstelte mich gewaltig, denn das Thermometer war, obschon es eben Mittag war, auf 5° unter Null gesunken, und ich sehnte mich heimlich wieder zurück nach dem schönen warmen Feuer und der behaglichen Holzhütte von Tlamacas. Sie, die mir gestern noch so erbärmlich vorgekommen, war nun das Ziel all meines Strebens. Wenn wir nur schon wieder unten im Walde wären! Wie schön ist doch die Natur dort zu Füßen des Berges, wie verlockend schien sie mir erst recht von hier! – Diego mochte dieselbe Sehnsucht hegen, denn er eilte zu der Tornamalacate und holte eine Petate herbei, die er an den Kraterrand auf den Schnee legte. Wir sollten nämlich den Abstieg nicht wie Caballeros aufrecht, sondern auf dem bescheidensten Teil unseres Körpers vollführen. Ich setzte mich auf die kleine Strohmatte und nahm das vorn daran geknüpfte Seilstückchen zwischen die Beine, Diego setzte sich hinter mich, mit seinen Beinen meinen Leib umfangend. Noch ein letzter Blick auf den Krater, ein Ruck, und im Fluge sausten wir auf der glatten Schneefläche dahin gleitend den Kegel hinab. Der Schnee stob zu beiden Seiten in dichten Flocken auf, wie Schaum vom Bug eines Dampfers aufgeworfen. Die eisige Luft durchdrang unsere warmen Kleider, dass wir bitterlich froren und die namenlose Angst mich doch wieder warm werden ließ. Wie, wenn wir auf einen unter dem Schnee verborgenen Felsen stießen? Wie, wenn der losgelöste Schnee in einer Lawine uns verschüttete? Wie, wenn wir in diesem ganz unlenkbaren raschen Fluge an einen Felssturz, in eine Barranca kämen? Aber schneller als diese Gedanken und Befürchtungen flogen wir selbst gleich einem abgeschossenen Pfeil über den weißen, blendenden Abhang hinab. Ich hatte die Augen geschlossen, und während ich noch der schrecklichen Dinge harrte, die da kommen sollten, fuhren wir schon auf den harten, losen Sand zu Füßen der Schneegrenze auf.
   Von hier hatten wir noch etwa zwei Stunden weit nach dem Rancho von Tlamacas zu gehen. Auch sie waren bald überstanden, und abends tranken wir bei warmem Feuer die letzte Flasche Champagner, deren Schwester, ihres Inhalts entleert, auf dem Krater des Popocatépetl vielleicht heute noch friert.
   
Hesse-Wartegg, Ernst von
Mexico. Land und Leute. Reisen auf neuen Wegen durch das Aztekenland
Wien und Olmütz 1890

Abgedruckt in:
Keller, Ulrike (Hg.)
Reisende in Mexiko
Wien 2003

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