Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

Um 1908 - Edward H. Thompson
Tauchgänge im Cenote
Chichen Itza

Der Sonnenaufgang des vierten Tages war klar und strahlend, Blätter und Gras und sogar der Himmel erschienen wie frisch gewaschen vom langen Regen. Nach einem hastigen Frühstück eilten wir zum Brunnen und wurden im Greifer des Baggers durch die Luft hinunter auf das regendurchweichte und nasse Deck des Prahms gebracht. Wir schöpften das Wasser aus und trockneten das Deck, auf dem wir dann sorgfältigst die zwei gummigefütterten Tauchanzüge aus Segeltuch auslegten, um sicherzugehen, dass es keine Löcher gab, durch die die zusammengepresste Luft in silbernen Blasenfäden in das Wasser drumherum gelangen konnte.
   Unsre Handgelenke wurden sorgfältig eingeseift; dann kletterten wir in unsere klobigen Uniformen und quetschten unsere Hände durch die eng anliegenden Gummimanschetten. Die Halsbänder wurden angepasst und die Kupferhelme, mit Stoff ausgefüttert und mit gläsernen Glotzaugen versehen, wurden über unsere Köpfe gestülpt und sorgfältig festgemacht. Dann kam eine Halskette aus Bleiplatten und schließlich schwere Stiefel mit Metallsohlen.
   Ein versuchsweiser Stoß Luft aus der Pumpe, ein Berühren der Ventile in den Helmen, und wir waren bereit zum Besuch bei Noh-och Yum Chac am Grunde des Heiligen Brunnens. Jedem die Hände schüttelnd – meine Indios sahen sehr ehrfürchtig und feierlich drein – watschelte ich an die Kante des Prahms und kletterte die Strickleiter hinunter, ähnlich graziös wie eine Schildkröte, die von einem Holzklotz rutscht.
   Ich muss zugeben, dass mein Herz viel schneller schlug als durch den zunehmenden Wasserdruck erklärlich, als ich die letzte Stufe losließ und in die wässerige Dunkelheit hinunterschwebte; und wie bei einem Ertrinkenden zogen mir blitzartig alle guten und bösen Taten meines Leben durch den Kopf. Aber fast automatisch beachtete ich wie jeder erfahrene Taucher die Vorsichtsmaßnahmen und prüfte, dass Luftschlauch und Rettungsleine frei und unbehindert waren. Fast unmittelbar ging das schwache grüne Licht in tiefschwarze Dunkelheit über. Ein- oder zweimal während des Abstieges streifte ich versunkene Baumwurzeln oder Äste und war sofort alarmiert, denn solche Zusammentreffen können wirklich gefährlich werden. Diese herausstehenden Hölzer waren aber ziemlich verrottet, nicht fester als nasser Holzschwamm, und brachen zum Glück bei der leichtesten Berührung mit dem dicken Seil ab.
   Während ich weiter und weiter nach unten gelangte, bekam ich etwa alle 3 Meter starke Schmerzen in den Ohren, wie wenn etwas Scharfes hineingestoßen würde. Durch Justieren der Helmventile und weites Öffnen des Mundes gelang es mir, den Druck auszugleichen; das machte ein Geräusch wie der Auspuff eines Motorrades, aber der Schmerz verschwand.
   Einmal auf dem Grund angelangt, musste ich mich nur um die Helmventile kümmern; nur dadurch, dass man sie häufig öffnet, kommt frische Luft von oben von der Pumpe und wird die verbrauchte Luft ausgestoßen.
   Ich war unten angekommen und hatte einen Augenblick zuvor gemerkt, dass der griechische Taucher auch heruntergekommen und ganz nahe bei mir war. Er hatte nur eben lange genug gewartet, um sicherzustellen, dass mein eingeborener Pumpenassistent mich richtig mit Luft versorgte, bevor er zu mir hinuntertauchte.
   Die Dunkelheit war total, völlige Blindheit, aber ich streckte die Hand aus und berührte den Griechen, so dass wir beide unsere Position zueinander wussten und unsere Leinen sich nicht ineinander verhedderten.
   Ich stand auf dem unebenen, felsigen Grund des Brunnens und war gepackt von dem Wissen, dass ich an einer Stelle stand, wo seit Anbeginn der Zeit nie ein Mensch gewesen ist. Ich glaube, ich erlebte das gleiche Hochgefühl, das Peary und Shackleton am Ende ihrer Reise zu ihrem jeweiligen Pol erfüllt haben muss.
   Ich hatte vorhergesehen, dass wir Licht brauchen würden und war mit der modernsten und besten elektrischen Lichtanlage ausgerüstet, die ich hatte bekommen können. Was immer Beleuchtung leisten konnte, würde diese Anlage leisten. Aber welche Lichtquelle kann ihre Strahlen durch schokoladenfarbenen Brei zwängen? Unser Licht war auch nicht vom geringsten Nutzen in diesem finsteren alten Wasserloch, und wir mussten uns ganz auf unser Tastgefühl verlassen. Und das half uns gut, denn mit fortdauernder Arbeit wurden unsere Fingerspitzen sehr empfindsam. Die Nervenenden in der Haut wurden so empfänglich, dass wir häufig imstande waren, Form und Oberflächenstruktur der Dinge zu bestimmen, die wir berührten, und es ging sogar so weit, dass wir Farben rieten, aber dabei haben wir uns oft vertan.
   Eine andere moderne Erfindung, die wir mit auf den Grund des Brunnens nahmen, war ein Unterwassertelefon. Es funktionierte gut, aber wir benutzen es selten, denn es war weniger mühsam, einfach entsprechend oft an der Signalleine zu ziehen, wenn wir mit denen da oben in Kontakt treten wollten. Der Grieche und ich fanden auch heraus, dass wir uns leicht miteinander unterhalten konnten, indem wir das metallene Vorderteil des Helms berührten. Die Stimme klang dumpf, aber mit ein bisschen Übung hatten wir keine Verständnisprobleme. Ich erinnere mich sogar, dass ich die kräftigen weißen Zähne meines griechischen Gefährten habe klappern hören. Das Wasser war sehr kalt und jedes Mal, wenn wir nach unserem täglichen zweistündigen Tauchgang wieder nach oben kamen, hatten wir blaue Lippen und Gänsehaut und zitterten vor Kälte. Kaffee, sehr heiß und sehr stark, war dann, was wir als erstes brauchten. Der Wasserdruck in einer Tiefe von zwanzig Metern ist erheblich, und die Luftschläuche sowohl wie die Rettungsleinen waren an mehreren Stellen mit dicht verkorkten Flaschen versehen. Wenn sie nach des Tages Arbeit hochgezogen wurden, waren die unteren immer halb voll Wasser, obwohl die leeren Flaschen so fest zugekorkt worden waren wie nur möglich, bevor sie zu Wasser gelassen wurden. Das zeigt, wie enorm der Druck war.
   Dieser Druck, ausgeglichen durch den entsprechenden Luftdruck im Taucheranzug, beeinflusst die Bewegungen des Tauchers in merkwürdiger Weise. Trotz meiner Halskette aus Bleiplatten und meiner fünf Zentimeter dicken Bleisohlen schien ich überhaupt nichts zu wiegen. Ein leichtes Stampfen mit dem Fuß auf den Boden ließ mich etwa drei Meter nach oben durchs Wasser sausen und dann langsam wieder nach unten sinken, etwa zwei Meter von meiner Ausgangsposition entfernt. Man musste gut kalkulieren, um an einer bestimmten Stelle zu landen, weil so einfach war, über das Ziel hinauszuschießen. Es schien, als ob ein kräftiger Hüpfer mich geradewegs zur Oberfläche des Brunnens und vielleicht sogar bis ganz nach oben, die felsigen und steilen Klippen hinauf, bringen würde.
   Bei einer Gelegenheit war ich so vertieft in die Funde auf dem Grund des Brunnens, dass ich ganz vergaß, die Luft, die sich angesammelt hatte, durch das Helmventil abzulassen. Ich war eifrig dabei, den mit Schlamm gefüllten Spalten im felsigen Untergrund zu folgen. Dann, fertig mit meiner Untersuchung, stampfte ich mit dem Fuß und es ging aufwärts. Aber mein Tauchanzug war so voll mit zusammengepresster Luft, dass ich im Wasser Purzelbäume schlug und schließlich mit den Füßen den Boden des Prahms traf; meine metallenen Sohlen machten ein so schallendes Geräusch, dass die Indios an Deck fast in Panik gerieten. Ich schwang inzwischen wie eine Schildkröte unter dem Boot hervor, fand die Strickleiter und fing an, über die Seite zu klettern. Meine Leute, kreidebleich vor Angst, pumpten ums liebe Leben, während ich, an der Seite des Bootes, aber für sie außer Sicht, die Helmventile öffnete, um zu verhindern, dass sie mich wie einen Kinderballon explodieren ließen. Als ich über die Seite kam, drängten sie sich um mich, und Juan Mis, mein treuer alter Diener, nahm meinen behelmten Kopf in beide Hände und sah scharf durch die dicken Glaseinsätze. »Gott sei Dank, er lacht!«, rief Juan, und alle kicherten glücklich vor Erleichterung, während ich auf einem Lukendeckel saß und meiner beschwerlichen Kleidungsstücke entledigt wurde.
   Unsere erste Aufgabe war, festzustellen, welche Art von Steinen die Greifer unseres Baggers verklemmt und seine Ketten beschädigt hatten, was uns Stunden harter Reparaturarbeiten kostete. Die Tatsache, dass der Bagger keinen Stein fest genug greifen konnte, um ihn an die Oberfläche zu bringen, brachte mich zu der Vermutung, dass die meisten eine glatte Oberfläche haben müssten und vermutlich Hieroglyphen trügen. Normale Felsstücke oder Geröll waren selten so glatt, dass der Stahlbehälter sie nicht fassen und nach ein oder zwei Versuchen nach oben bringen konnte.
   Den Grund des Brunnens mit der Hand abtastend, fand ich einen nach dem anderen von diesen Steinen und meine Vermutung bestätigt. Es gelang uns, Ketten um sie zu legen und mit Hilfe des Gerüstes aus ihrem Wasserbett heraufzuholen. Einzeln wurden diese schweren, wundersam behauenen Steine durch zwanzig Meter Wasser und noch mal über zwanzig Meter hoch gehoben, bis sie am Rand des Brunnens lagen. Ein großer Stein war eine perfekt gehauene Statue eines sitzenden Gottes oder Priesters, der mich an den »Denker« von Rodin erinnerte.
   Am nächsten Tag tauchten wir wieder in den Brunnen hinab, diesmal nicht auf der Suche nach großen Objekten wie bearbeiteten Steinen, sondern mehr nach kleinen Dingen im Schlamm zwischen den Buckeln und in den Ritzen des Grundes.
   Ich erinnere mich genau an das Gefühl, wenn meine Finger merkwürdige kleine Dinge berührten wie Münzen, kleine Nüsse oder Ringe. Ich konnte meine Neugier kaum zügeln, als ich sie in meine Tasche steckte, und der Drang, nach oben an Licht und Luft zu kommen und sie zu untersuchen, war kaum zu ertragen.
   Als ich etwa zwanzig oder dreißig aufgesammelt hatte, gab ich das Signal und stieg nach oben. Bevor mir noch mein Tauchanzug zur Hälfte ausgezogen war, versenkte ich meine kalten Finger in die tropfende Tasche und holte wunderschöne bossierte Ringe heraus, kleine Glocken aus Kupfer, und mehrere Glocken aus purem Gold. Es gab Glocken und Ornamente aus gepunztem Gold und Goldfiligran, von exquisitem Aussehen und bestem Kunsthandwerk. Es gab wunderhübsche geschnitzte Jadeperlen und andere Gegenstände aus Jade. Wie ein normaler Goldsucher war ich auf Gold gestoßen, aber auf Gold, das unermesslich mehr wert war, als rohe, grobe Goldstücke; denn, was immer der reine Goldwert meiner Funde war, so war doch in Wirklichkeit jedes Teil im Wert unschätzbar.
   Und das war nur der Anfang. Wir hatten zwei Möglichkeiten, den Schatz ans Licht zu bringen. Nachdem die großen behauenen Steine aus dem Brunnen entfernt waren, konnte der Bagger wieder benutzt werden, und wir konnten mit den Tauchanzügen arbeiten.
   Oft dirigierten der Grieche und ich vom Grunde aus die Arbeit des Baggers. Die heraufgeholten goldenen Gegenstände würden, einfach beim Goldschmied in den Schmelztiegel geworfen, einige hunderttausend Dollar an reinem Metallwert erbringen, eine hinreichende Dividende, die, wenn man niederträchtig und geldgierig genug wäre, das fertig zu bringen, eine Rechtfertigung wäre für die Zeit, die Mühe und das Geld, die ich in dieses Unterfangen investiert habe.
   An einem besonders kalten und öden Tag war der Bagger den ganzen Vormittag in Betrieb gewesen, ohne dass etwas Wertvolles heraufgekommen wäre. Gegen Mittag war ich kurz davor, den Männern für den Rest des Tages frei zu geben, damit sie sich von ihrem halbertränkten Zustand erholen konnten. Da stießen die Männer auf der Plattform einen Schrei aus, der mich schnell in Bewegung brachte.
   Einige selige Minuten lang pulten wir wunderhübsche kleine Kupferglocken aus dem schwarzen Matsch. Der Regen war vergessen. Es wurden Leute nach unserem Essen geschickt, und eifrig ließen wir den Stahleimer wieder hinunter. Und wieder kam er herauf mit einem Schlammpudding, mit Kupferglocken wie mit Rosinen reichlich gesprenkelt. Den ganzen Nachmittag waren wir beim Bagger, und fast jede Ladung enthielt mehr Kupferglocken in allen Größen und Formen, keine größer als unsere altmodischen Schlittenglocken und viele sehr viel kleiner. Sie sahen in der Tat so ähnlich aus, dass ich den Gedanken nicht loswerden konnte, sie seien moderne Glocken für Tauschgeschäfte, wie die in Spanien. Bei Feierabend hatten wir über zweihundert dieser raren Beispiele der Kunstfertigkeit der Maya zusammen, und sogar eine nur oberflächliche Überprüfung ergab, dass sie echten alten Ursprungs waren.

Willard, Theodore Arthur
The City of the Sacred Well
London 1926
Übersetzung: U. Keller

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