1874 - Friedrich Ratzel
Acapulco
Am 16. October kamen wir dem Lande sehr nahe und konnten nun deutlicher sehen, wie alle Berge aufs schönste bewaldet waren. Wie dichte Wolken sich Mittags um die Berggipfel lagerten und gegen Abend sich tief in die Thäler herabzogen, hatten wir schon früher beobachtet. Beide Anblicke liessen die weit verbreitete Vorstellung, dass um Acapulco eine dürre, wüste Gegend sei, als unbegründet erscheinen. Viele Passagiere hatten Acapulco früher passirt, aber die irrthümlichen Vorstellungen, die sie von der Gegend hatten, liessen deutlich erkennen, wie wenig offen die Augen der Meisten für die Natur sind, die sie umgibt. Mittags ging der Cours nach der Küste, und um 3 Uhr begrüssten zwei Kanonenschüsse, die in den Bergen ein weithin haltendes Echo weckten, den Hafen von Acapulco. Etwa eine halbe Stunde vom Ufer warf das Dampfschiff Anker, und sofort sahen wir eine grosse Bewegung am Ufer sich entfalten und wenigstens zwanzig Boote kamen auf uns zu. Alles rüstete sich, ans Land zu gehen, und als der Quarantaine-Arzt sich über den Gesundheitszustand des Schiffes unterrichtet hatte, wurde die Stiege heruntergelassen. Sofort stürzte ein Dutzend Männer und Frauen mit Körben voll Früchte herauf, und Bootsmänner umringten mit Geschrei jeden, der Miene machte, ans Land zu gehen. Die braunen, zum Theil indianer-, zum Theil negerhaften Gesichter dieser Eindringlinge, ihre halbnackten Nacken und Beine, ihr lärmendes Wesen unterschied sich stark von allem, was wir im Norden gewohnt sind. Wer einmal mit der Eisenbahn in Neapel oder mit dem Dampfer in Palermo angekommen ist, kann sich einigermassen vorstellen, wie überraschend dieses Spectakel war. Es fehlte auch nicht, dass sich Einige unseres Gepäckes bemächtigten und dasselbe in ein anderes Boot zu bringen suchten als das war, welches wir gemietet; nur nach grobem Geschrei liessen diese ihre Beute fahren. Wir kamen endlich ans Land, wo ein ziemlich stark betrunkener Zollbeamter das Gepäck flüchtig ansah. Darauf wurde dasselbe in das "Hotel California" geschafft, ein Haus, das, fast wie alle Häuser Acapulco's, aus nichts als Erdgeschoss bestand; ein dickmauriges Loch voll Staub und Spinnweben, mit einem Stuhl und Bettgestell möbliert, wurde mir in demselben zum Wohnraum angewiesen.
Das focht mich alles nicht an; brauchte ich doch bloss aus der Thür zu treten, um die Wipfel der Cocospalmen, die über manche Dächer ragten, um die seltsamen Formen riesiger Cactussäulen an den Bergabhängen, fremde Baumund Strauchgestalten in Menge zu erblicken. Eine Masse tropischer Früchte wurde feilgeboten, die ich zum Teil noch nie gesehen hatte, und zahlreiche Kinder warteten mit Körbchen voll Muscheln, Blumen, Früchten, mit Fächern, Hängematten und anderen tropischen Dingen den Fremden auf, die ans Land kamen. Zwei Stunden lang war ein lebhaftes Treiben in den Strassen von Acapulco, denen man leicht ansah, dass dies nicht ihre gewöhnliche Physiognomie sei. Aber als es dämmerte, erscholl wieder ein Schuss vom Schiff, und in wenigen Minuten war alles Leben verlaufen. Ich fühlte mich nun erst allein inmitten der ganz fremden Umgebung; aber noch denselben Abend machte ich die Bekanntschaft einiger Deutscher, die mir freundlich entgegenkamen, und der erste Trunk im tropischen Lande war nicht Cocosmilch, wie ich mir geträumt hatte, sondern eiskaltes Lagerbier aus San Francisco.
Den nächsten Morgen ging ich so früh wie möglich aus, um Hafen und Stadt zu betrachten. Ein sichererer Hafen als der von Acapulco ist kaum zu denken. Das Becken ist tief und die an sich schmale Einfahrt ist durch eine quer vorgelagerte Insel derart verschlossen, dass man ringsum keinen Ausgang sieht, wenn man in den Hafen eingelaufen ist. Auch die Lage des Städtchens ist schön, denn es zieht mit seinen niedrigen Häusern sich in der Tiefe der Bucht hart am Meere und an einigen Anhöhen hin, und während ein Wald von Cocospalmen den Zwischenraum zwischen dem Meer und dem Fuss der Gebirge ausfüllt, schauen die letzteren mit dichtbewaldeten, schluchtenreichen Abhängen und Gipfeln auf das blaue Meer hinaus. Rings um Acapulco erheben sich bedeutende Höhen, über welche ausnahmslos das weiche, samtne Dunkelgrün dichter Bewaldung gebreitet ist. Nur wenige lichtgrüne Felder heben sich aus diesem Waldkleid hervor; dies sind Rodungen im Walde, die mit Mais oder Bananen bepflanzt sind. Acapulco selbst ist ein Städtchen von ärmlichem Ansehen. Seine Häuser sind dickmaurige Erdgeschossbauten mit kleinen Fenstern, wo sie am besten sind, d. h. am Markt und in den nächsten Strassen, und Rohr- und Reisighütten in den peripherischen Teilen. Demgemäss ist es grösstenteils von dorfartiger Erscheinung. Viele halbzerfallene Häuser sieht man, die aber dabei doch bewohnt sind, und die Kirche, die auf einer Anhöhe steht, würde man bei uns für eine Ruine halten.
Ich habe bei kurzem Aufenthalt die Bevölkerung von Acapulco natürlich nicht genau kennen lernen können, aber einige Züge, die ich beobachtete, kamen mir sehr eigentümlich vor, wobei natürlich der Contrast gegen die californischen Zustände nicht zu vergessen ist, aus denen ich kaum zwei Wochen hinausgetreten war. Es fiel mir vor Allem auf, dass die Deutschen trotz geringer Zahl (es sind ihrer 12-14 in Acapulco) eine sehr respectierte, in mancher Beziehung sogar dominierende Stellung einnehmen - eine Stellung, die stark absticht von derjenigen, mit welcher sie sich in den Vereinigten Staaten begnügen müssen. Wenn man aber das Durchschnittsurteil der Fremden über die Mexicaner hört, so erklärt sich diese Stellung sehr leicht. Es ist hier nicht wie in den Vereinigten Staaten, dass viele Fremde und besonders Deutsche sich rasch in die Verhältnisse der neuen Heimat einleben, welche sie besser dünken, als die ihres eigenen Vaterlandes, sondern sie hegen fast ohne Ausnahme eine geringe Meinung von den hiesigen Zuständen und dem Volke, das der Träger derselben ist. Wenn sie sich auch so weit in die Sitten und Anschauungen der Mexicaner schicken, als aus geschäftlichen Rücksichten nothwendig, so fällt es ihnen doch nicht ein, sich auch nur zum Schein näher an dieselben anzuschliessen. Von einem Deutschen in H., der jüngst anstellungshalber das mexikanische Bürgerrecht erwarb, wurde wie von einem merkwürdigen Phänomen gesprochen und man sagte: Sie können sich denken, was für ein Individuum es sein muss, das so weit herabsteigt.
Dem entsprechend ist die Stellung der Landesangehörigen zu den Fremden ebenfalls eine ganz andere als in "den Staaten". Sie suchen ihre Gesellschaft und räumen ihnen den ersten Platz ein. Dass sie dabei im Geheimen die "estranjeros", deren Bildung und Charakter ihnen in den meisten Fällen imponieren und deren Reichthum ihre Freundschaft wertvoll macht, von Herzen hassen, tut dem äusseren Schein keinen Eintrag. Denn diese Leute haben, wie ich mich schon früher überzeugte, wenn immer ich mit Mexicanern zusammentraf, ein sehr geringes Gefühl persönlicher Würde. Demgemäss ist es nicht wunderbar, dass sie die Fremden sogar umschmeicheln und umkriechen.
In den meisten Häfen der mexicanischen West- und Südküste übertreffen die deutschen Kaufleute alle anderen an Zahl, Reichtum und Einfluss. Dies wiederholt sich in Acapulco, wo das bedeutendste Geschäft in Händen von Deutschen ist und wo, ausser aus San Francisco, das den Vorzug der Nähe und häufiger und sicherer Verbindung hat, die hauptsächlichsten Waren aus Hamburg kommen. Nächst den deutschen Firmen sind einige spanische vorhanden, die gleichfalls bedeutend sind, aber auch sie beziehen ihre Waren vorwiegend aus "Amburgo". Die Mexicaner selbst haben nur in den seltensten Fällen bedeutende Geschäfte.
Wenn man bedenkt, dass allwöchentlich wenigstens ein americanischer Dampfer hier anlegt, der entweder aus Californien kommt oder dahin geht, so kann man nur staunen, wie es möglich ist, dass unsere Landsleute und die Spanier sich trotzdem auf der Höhe des Geschäftes gehalten haben, und selbst nicht eine auch nur nennenswerte Concurrenz von Seiten der Americaner erfahren. In californischen Blättern las ich Mahnungen, dass die Americaner nicht länger dieses Handelsgebiet, das ihnen von Natur zugehöre, von Europäern beherrschen lassen sollten. Aber es fehlt dem Durchschnitts-Americaner nicht bloss die Geduld und ein gewisser Grad von Anschmiegsamkeit, welche zum Handelsbetrieb in diesen unsicheren Gegenden nötig sind, sondern vielfach auch die allgemeine und kaufmännische Bildung; ein Americaner, der ausser seiner Muttersprache irgend eine Sprache spricht, ist ausserhalb des engen Kreises der Hochgebildeten noch immer eine seltene Erscheinung, aber die hiesigen Deutschen sprechen durchschnittlich gut englisch und spanisch und manche dazu noch französisch. Mit der Zeit wird freilich das natürliche Übergewicht Californiens und der anderen pacifischen Staaten der Union nicht verfehlen, sich auch im Handel immer mehr zur Geltung zu bringen, aber dann wird überhaupt für diese Küste eine ganz neue Zeit erscheinen. Denn anders als durch fremdes Eingreifen ist nach einstimmigem Urteil ein rechtes Wurzelschlagen der Cultur hier gar nicht möglich.
In neuerer Zeit hat Acapulco immer mehr von seiner Handelsbedeutung verloren und würde, zumal ihm der Rückhalt einer bedeutenden Binnenstadt fehlt, welcher San Blas (Tepic) und Manzanillo (Colima) über dem Wasser hält, zur Unbedeutendheit eines Landstädtchens herabgesunken sein, wenn nicht immer noch der alte Gebirgsweg von Mexico her hier ausmündete und wenn nicht die centrale Lage zwischen San Franzisco und Panama und der vorzügliche Hafen die Pacific Mail Steamship Company veranlasste, hier alle ihre Panama-Dampfer anlegen zu lassen und teilweise auch zu verproviantieren. Aber der eigene Handel Acapulco's ist zurückgegangen, da das Hinterland, der Staat Guerrero, der zu den uncultiviertesten und unruhigsten gehört, seine natürlichen Hilfsquellen nur in der unzulänglichsten Weise entwickelt und nach allgemeinem Urteil seit dem Aufhören der spanischen Herrschaft nur ärmer statt reicher geworden ist. Die einzige Tatsache, dass keine einzige Strasse in Acapulco ausmündet, trotzdem Guerrero einer der metallreichsten und fruchtbarsten Staaten und einer der dichtestbewaldeten im ganzen Lande ist, zeichnet wohl zur Genüge die Lage. Aber ganz Guerrero hat keine fahrbare Strasse!
Einst war Acapulco allerdings von grösserer Bedeutung, denn bis in die Zeiten des Unabhängigkeitskrieges war es der einzige Hafen, welcher an der pacifischen Küste Mexico's dem Verkehr mit den spanisch-asiatischen Colonien geöffnet war. Alljährlich ging ein Schiff nach den Philippinen von hier ab und kam eines hier an. Es brachte vorzüglich chinesische und indische Waren und nahm Silber mit zurück. Der Umsatz dürfte nie über 3 Millionen hinausgegangen sein. Erst im Anfang dieses Jahrhunderts war bei Tepic dem Handel ein zweiter Hafen, San Blas, geöffnet worden, der durch die Nähe der Städte Tepic, Colima und Guadalajara rasch an Bedeutung gewann. Später kamen Mazatlan, Manzanillo, Puerto Angel, Salina Cruz u. a. hinzu, und Acapulco behielt nur den Vorzug seines ausgezeichneten Hafens und der Nähe der Hauptstadt.
Über den gegenwärtigen Stand des Handels von Acapulco entnehme ich den Berichten des americanischen Consuls Sutter folgende Angaben. Im Jahre 1872 liefen 39 Dampfer in den Hafen ein, die sämmtlich der Pacific Mail Steamship Company gehörten, ferner 9 Segelschiffe, von denen 4 deutsche waren. Die Einfuhr erreichte den Werth von etwas über einer halben Million Dollars und die Ausfuhr bezifferte sich auf 350,000 Dollars. In jener stellen Waren für den Verbrauch am Orte und in der Provinz den grössten Betrag dar (gegen 440,000 Dollars) von denen aber höchstens der fünfte Theil aus Nordamerica, der grösste Theil aus Hamburg kommt. Unter den Ausfuhrgegenständen ist Gold Mit 230,000 Dollars, Häute mit 55,000 Dollars, Cedernholz Mit 25,000 Dollars und Silbererz mit 16,000 Dollars am reichsten vertreten. Vom Gold abgesehen, geht die Ausfuhr vorzüglich nach Hamburg.
Das Klima von Acapulco ist als ein sehr ungesundes verschrieen und scheint selbst im Innern Mexico's in einem sehr schlechten Geruche zu stehen, da die Beamten, welche hierher versetzt werden, diesen Ort wie eine Art Verbannungsort ansehen sollen. Bei der geringen Ausdehnung des sumpfigen Flachlandes und der Nähe des Gebirges und Meeres scheint mir aber nur die Hitze, welche von allen Wänden des Felsenkessels zurückstrahlt, eine unangenehme Eigentümlichkeit Acapulco's zu sein, während es die Fieberluft mit allen Küstenorten theilt. Jedenfalls ist Tatsache, dass die Deutschen, von denen einige viele Jahre hier verweilen, hier eher weniger vom Fieber zu leiden haben, als an anderen Orten dieser Gegend, und hat z. B. einer meiner näheren Bekannten mir versichert, dass er in drei Jahren, die er nun hier verlebt hat, nicht ein einziges Mal von einem irgend nennenswerten Unwohlsein oder gar einem Fieber heimgesucht worden sei. Von so gefährlichen Fiebern, wie sie in dem nahen Manzanillo, dem Hafenorte von Colima, herrschen (man nennt sie Manzanillo-Fieber und sie sollen in raschem, meist tödlichem Verlauf und sonstigen Symptomen dem gelben Fieber ähnlich sein), ist Acapulco jedenfalls verschont.
Ratzel, Friedrich
Aus Mexiko - Reiseskizzen aus den Jahren 1874 und 1875
Neudruck des 1878 erschienen Werkes, Stuttgart 1969