Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1800 - Alexander von Humboldt
Über das Curare
Esmeralda, Venezuela

    Das Glück wollte, dass wir einen alten Indianer trafen, der weniger betrunken als die anderen und eben beschäftigt war, das Curaregift aus den frischen Pflanzen zu bereiten. Der Mann war der Chemiker des Ortes. Wir fanden bei ihm große tönerne Pfannen zum Kochen der Pflanzensäfte, flachere Gefäße, die durch ihre große Oberfläche die Verdunstung befördern, tütenförmig aufgerollte Bananenblätter zum Durchseihen der mehr oder weniger faserige Substanzen enthaltenden Flüssigkeiten. Die größte Ordnung und Reinlichkeit herrschten in dieser zum chemischen Laboratorium eingerichteten Hütte. Der Indianer, der uns Auskunft erteilen sollte, heißt in der Mission der Giftmeister (amo del Curare), er hatte das steife Wesen und den pedantischen Ton, den man früher in Europa den Apothekern zum Vorwurf machte. „Ich weiß“, sagte er, „die Weißen verstehen die Kunst, Seife zu machen und das schwarze Pulver, bei dem das Üble ist, dass es Lärm macht und die Tiere verscheucht, wenn man sie fehlt. Das Curare, dessen Bereitung bei uns vom Vater auf den Sohn übergeht, ist besser als alles, war ihr dort drüben (über dem Meer) zu machen wisst. Es ist der Saft einer Pflanze, der ganz leise tötet, ohne dass man weiß, woher der Schuss kommt.“
    Diese chemische Operation, auf die der Meister des Curare so großes Gewicht legt, schien uns sehr einfach. Das Schlinggewächs (Bejuco), aus dem man in Esmeralda das Gift bereitet, heißt hier wie in den Wäldern bei Javita. Es ist der Bejuco de Mavacure, und er kommt östlich von der Mission am linken Ufer des Orinoco, jenseits des Rio Amaguaca im granitischen Bergland von Guayana Yumariquin in Menge vor. Obgleich die Bejucobündel, die wir im Haus des Indianers fanden, gar keine Blätter mehr hatten, blieb uns doch kein Zweifel, dass es dasselbe Gewächs aus der Familie der Strychneen war (Aublets Rouhamon sehr nahe stehend), das wir im Wald bei Pimichin untersucht. Der Mavacure wird ohne Unterschied frisch oder seit mehreren Wochen getrocknet verarbeitet. Der frische Saft der Liane gilt nicht für giftig, vielleicht zeigt er sich nur wirksam, wenn er stark konzentriert ist. Das furchtbare Gift ist in der Rinde und einem Teil des Splints enthalten. Man schabt mit einem Messer 4-5 Linien dicke Mavacurezweige ab und zerstößt die abgeschabte Rinde auf einem Stein, wie er zum Reiben des Maniokmehls dient, in ganz dünnen Fasern. Da der giftige Saft gelb ist, so nimmt die ganze faserige Masse die nämliche Farbe an. Man bringt dieselbe in einen 9 Zoll hohen, 4 Zoll weiten Trichter. Diesen Trichter strich der Giftmeister unter allen Gerätschaften des indianischen Laboratoriums am meisten heraus. Er fragte uns mehrere Male, ob wir por alla (dort drüben, das heißt Europa) jemals etwas gesehen hätten, das seinem Embudo gleiche? Es war ein tütenförmig aufgerolltes Bananenblatt, das einer anderen, stärkeren Tüte aus Palmblättern steckte; die ganze Vorrichtung ruhte auf einem leichten Gestell von Blattstielen und Fruchtspindeln einer Palme. Man macht zuerst einen kalten Aufguss, indem man Wasser an der faserigen Stoff, die gestoßene Rinde des Mavacure, gießt. Mehrere Stunden lang tropft ein gelbliches Wasser vom Embudo, dem Blatttrichter, ab. Dieses durchsickernde Wasser ist die giftige Flüssigkeit; sie erhält aber die gehörige Kraft erst dadurch, dass man sie wie die Melasse in einem großen tönernen Gefäß abdampft. Der Indianer forderte uns von Zeit zu Zeit auf, die Flüssigkeit zu kosten; nach dem mehr oder minder bitteren Geschmack beurteilt man, ob der Saft eingedickt genug ist. Dabei ist keine Gefahr, da das Curare nur dann tödlich wirkt, wenn es unmittelbar mit dem Blut in Berührung kommt. Deshalb sind auch, was auch die Missionare am Orinoco in dieser Beziehung gesagt haben mögen, die Dämpfe vom Kessel nicht schädlich. Fontana hat durch seine schönen Versuche mit dem Ticunasgift vom Amazonenstrom längst dargetan, dass die Dämpfe, die das Gift entwickelt, wenn man es auf glühende Kohlen wirft, ohne Schaden eingeatmet werden, und dass es unrichtig ist, wenn La Condamine behauptet, zum Tode verurteilte indianische Weiber seien durch die Dämpfe des Ticunasgiftes getötet worden.
    Der noch so stark eingedickte Saft des Mavacure ist nicht dick genug, um an den Pfeilen zu haften. Also bloß um dem Gift Körper zu geben, setzt man dem eingedickten Aufguß einen anderen, sehr klebrigen Pflanzensaft bei, der von einem Baum mit großen Blättern, genannt Kiracaguero, kommt. Da dieser Baum sehr weit von Esmeralda wächst, und er damals so wenig wie der Bejuco de Mavacure Blüten und Früchte hatte, so können wie ihn botanisch nicht bestimmen. Ich habe schon mehrmals davon gesprochen, wie oft ein eigenes Missgeschick die interessantesten Gewächse der Untersuchung des Reisenden entzieht, während tausend andere, bei denen man nichts von chemischen Eigenschaften weiß, voll Blüten und Früchten hängen. Reist man schnell, so bekommt man selbst in den Tropen, wo die Blütezeit der holzigen Gewächse so lange dauert, kaum an einem Achtel der Gewächse die Fructifikationsorgane zu sehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass man, ich sage nicht die Familie, aber Gattung und Art bestimmen kann, ist demnach gleich 1 zu 8, und dieses nachteilige Verhältnis empfindet man begreiflich noch schwerer, wenn man dadurch um die nähere Kenntnis von Gegenständen kommt, die noch in anderer Hinsicht als nur für die beschreibende Botanik von Bedeutung sind.
    Sobald der klebrige Saft des Kiracaguero dem eingedickten, kochenden Giftsaft zugegossen wird, schwärzt sich dieser und gerinnt zu einer Masse von der Konsistenz des Teers oder eines dicken Sirups. Diese Masse nun ist das Curare, wie es in den Handel kommt.
    
Alexander von Humboldt's Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents
In deutscher Bearbeitung von Hermann Hauff
(Einzige von A.v.H. anerkannte Ausgabe in deutscher Sprache)
Band 6; Stuttgart 1861

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