1800 - Alexander von Humboldt
Urwaldnacht am Apure
Die Nacht war still und heiter und der Mond schien herrlich. Die Krokodile lagen am Ufer; sie hatten sich so gelegt, dass sie das Feuer sehen konnten. Wir glauben bemerkt zu haben, dass der Glanz derselben sie herlockt, wie die Fische, die Krebse und andere Wassertiere. Die Indianer zeigten uns im Sand die Fährten dreier Tiger, darunter zweier ganz junger. Ohne Zweifel hatte hier ein Weibchen seine Jungen zum Trinken an den Fluss geführt. Da wir am Ufer keinen Baum fanden, steckten wir die Ruder in den Boden und befestigten unsere Hängematten daran. Alles blieb ziemlich ruhig bis um elf Uhr nachts; da aber erhob sich im benachbarten Wald ein so furchtbarer Lärm, dass man beinahe kein Auge schließen konnte. Unter den vielen Stämmen wilder Tiere, die zusammen schrien, erkannten unserer Indianer nur diejenigen, die sich auch einzeln hören ließen, namentlich die leisen Flötentöne der Sapaus, die Seufzer der Alouatos, das Brüllen des Tigers und des Cuguars oder amerikanischen Löwen ohne Mähne, das Geschrei des Bisamschweins, des Faultiers, des Hocco, des Parraqua und einiger anderer hühnerartiger Vögel. Wenn die Jaguare dem Waldrand sich näherten, so fing unser Hund, der bis dahin fortwährend gebellt hatte, an zu heulen und suchte Schutz unter den Hängematten. Zuweilen, nachdem es lange geschweigen erscholl das Brüllen der Tiger von den Bäumen herunter, und dann folgte darauf das anhaltende schrille Pfeifern der Affen, die sich wohl bei der drohenden Gefahr auf und davon machten.
Ich schildere Zug für Zug diese nächtlichen Auftritte, weil wir zu Anfang unserer Fahrt auf dem Apure noch nicht daran gewöhnt waren. Monate lang, allerorten, wo der Wald nahe an die Flussufer rückt, hatten wir sie zu erleben. Die Sorglosigkeit der Indianer macht dabei auch dem Reisenden Mut. Man redet sich mit ihnen ein, die Tiger fürchten alle das Feuer und greifen niemals einen Menschen in seiner Hängematte an. Und solche Angriffe kommen allerdings sehr selten vor, und aus meinem langen Aufenthalt in Südamerika erinnere ich mich nur eines einzigen Falles, wo, den Achaguas-Inseln gegenüber, ein Llanero in seiner Hängematte zerfleischt gefunden wurde.
Befragt man die Indianer, warum die Tiere des Waldes zu gewissen Stunden einen so furchtbaren Lärm erheben, so geben sie die lustige Antwort: „Sie feiern den Vollmond.“ Ich glaube, die Unruhe rührt meist daher, dass im inneren Walde sich irgendwo ein Kampf entsponnen hat. Die Jaguare zum Beispiel machen Jagd auf die Bisamschweine und Tapire, die nur Schutz finden, wenn sie zusammenbleiben, und in gedrängten Rudeln fliehend das Gebüsch, das ihnen in den Weg kommt, niederreißen. Die Affen, scheu und furchtsam, erschrecken ob dieser Jagd und beantworten von den Bäumen herab das Geschrei der großen Tiere. Sie wecken die gesellig lebenden Vögel auf, und nicht lange, so ist die ganze Menagerie in Aufruhr. Wir werden bald sehen, dass dieser Lärm keineswegs nur bei schönem Mondschein, sondern vorzugsweise während der Gewitter und starken Regengüsse unter den wilden Tieren ausbricht. „Der Himmel verleihe ihnen seine ruhsame Nacht, wie uns anderen!“ sprach der Mönch, der uns an den Rio Negro begleitete, wenn er, todmüde von der Last des Tages, unser Nachtlager einrichten half. Es war allerdings seltsam, dass man mitten im einsamen Wald sollte keine Ruhe finden können. In den spanischen Herbergen fürchtet man sich vor den schrillen Tönen der Gitarren im anstoßenden Zimmer; in denen am Orinoco, das heißt auf offenem Gestade oder unter einem einzeln stehenden Baum, besorgt man durch Stimmen aus dem Walde im Schlaf gestört zu werden.
Alexander von Humboldt's Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents
In deutscher Bearbeitung von Hermann Hauff
(Einzige von A.v.H. anerkannte Ausgabe in deutscher Sprache)
Band 4, Stuttgart 1861