Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1800 - Alexander von Humboldt
Auf dem Apure

Vom Diamante an betritt man ein Gebiet, das nur von Tigern, Krokodilen und Chiguire, einer großen Art von Linnés Gattung Cavia, bewohnt ist. Hier sahen wir dicht gedrängte Vogelschwärme sich vom Himmel abheben wie eine schwärzliche Wolke, deren Umrisse sich jeden Augenblick verändern. Der Fluss wird allmählich breiter. Das eine Ufer ist meist dürr und sandig in Folge der Überschwemmungen; das andere ist höher und mit hochstämmigen Bäumen bewachsen. Hin und wieder ist der Fluss zu beiden Seiten bewaldet und bildet einen geraden, 150 Toisen [1 Toise entspricht etwa 1,95 m] breiten Kanal. Die Stellung der Bäume ist sehr merkwürdig. Vorne sieht man Büsche von Sauso (Hermesia castaneifolia), die gleichsam eine vier Schuh hohe Hecke bilden, und es ist, als wäre diese künstlich beschnitten. Hinter dieser Hecke kommt ein Gehölz von Cedrela, Brasilholz und Gayac. Die Palmen sind ziemlich selten; man sieht nur hie und da einen Stamm der Corozo- und der stacheligen Piritupalme. Die großen Vierfüßer dieses Landstrichs, die Tiger, Tapire und Pecarischweine, haben Durchgänge in die eben beschriebene Sausohecke gebrochen, durch die sie zum Trinken an den Strom gehen. Da sie sich nicht viel daraus machen, wenn ein Kanu vorbeikommt, hat man den Genuss, sie langsam am Ufer hinstreichen zu sehen, bis sie durch eine der schmalen Lücken im Gebüsch im Wald verschwinden. Ich gestehe, diese Auftritte, so oft sie vorkamen, behielten immer ihren großen Reiz für mich. Die Lust, die man empfindet, beruht nicht allein auf dem Interesse des Naturforschers, sondern daneben auf einer Empfindung, die allen im Schoss der Kultur aufgewachsenen Menschen gemein ist. Man sieht sich in einer neuen Welt, einer wilden, ungezähmten Natur gegenüber. Bald zeigt sich am Gestade ein Jaguar, der schöne amerikanische Panther; bald wandelt der Hocco (Crax alector) mit schwarzem Gefieder und dem Federbusch langsam an der Uferhecke hin. Tiere verschiedensten Klassen lösen einander ab. „Es como in el Paraiso“ (es ist wie im Paradies), sagte unser Steuermann, ein alter Indianer aus den Missionen. Und wirklich, alles erinnert hier an den Urzustand der Welt, dessen Unschuld und Glück uralte ehrwürdige Überlieferungen allen Völkern vor Augen stellen; beobachtet man aber das gegenseitige Verhalten der Tiere genau, so zeigt es sich, dass sie einander fürchten und meiden. Das Goldene Zeitalter ist vorbei, und in diesem Paradies der amerikanischen Wälder, wie in allen Orten, hat lange traurige Erfahrung alle Geschöpfe gelehrt, dass Sanftmut und Stärke selten beisammen sind.
    Wo das Gestade eine bedeutende Breite hat, bleibt die Reihe von Sausobüschen weiter vom Strome weg. Auf diesem Zwischengebiet sieht man Krokodile, oft ihrer acht oder zehn, auf dem Sane liegen. Regungslos, die Kinnladen unter rechtem Winkel aufgesperrt, ruhen sie nebeneinander, ohne irgendein Zeichen von Zuneigung, wie man sie sonst bei gesellig lebenden Tieren bemerkt. Der Trupp geht auseinander, sobald er vom Ufer aufbricht, und doch besteht er wahrscheinlich nur aus einem männlichen und vielen weiblichen Tieren; denn, wie schon Descourtils, der die Krokodile auf St. Domingo so fleißig bobachtet, vor mir bemerkt hat, die Männchen sind ziemlich selten, weil sie in der Brunst miteinander kämpfen und sich ums Leben bringen. Diese gewaltigen Reptilien sind so zahlreich, dass auf dem ganzen Stromlauf fast jeden Augenblick ihrer fünf der sechs zu sehen waren, und doch fing der Apure erst kaum merklich an zu steigen und Hunderte von Krokodilen lagen also noch im Schlamm der Savannen begraben.
    Gegen vier Uhr abends hielten wir an, um ein totes Krokodil zu messen, das der Strom ans Ufer geworfen. Es war nur 16 Fuß 8 Zoll lang; einige Tage später fand Bonpland ein anderes (männliches), das 22 Fuß 3 Zoll maß. Unter allen Zonen, in Amerika wie in Ägypten, erreicht das Tier dieselbe Größe. Auch ist die Art, die im Apure, im Orinoco und im Magdalenenstrom so häufig vorkommt, kein Cayman oder Alligator, sondern ein wahres Krokodil mit an den äußeren Rändern gezähnten Füßen, dem Nilkrokodil sehr ähnlich. Bedenkt man, dass das männliche Tier erst mit zehn Jahren mannbar wird und dass es dann acht Fuß lang ist, so lässt sich annehmen, dass das von Bonpland gemessene Tier wenigstens 28 Jahre alt war. Die Indianer sagten uns, in San Fernando vergehe nicht leicht ein Jahr, wo nicht zwei, drei erwachsene Menschen, namentlich Weiber beim Wasserschöpfen am Fluss, von diesen Fleisch fressenden Eidechsen zerrissen würden.

Alexander von Humboldt's Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents
In deutscher Bearbeitung von Hermann Hauff
(Einzige von A.v.H. anerkannte Ausgabe in deutscher Sprache)
Band 4, Stuttgart 1861

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