Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1800 - Alexander von Humboldt
Die Verbindung von Orinoco und Amazonas
Brazo Casiquiare, Venezuela

6. Mai. Der Morgen war kühl und schön. Sechsunddreißig Tage waren wir in einem schmalen Kanu eingesperrt gewesen, das so unstet war, dass es umgeschlagen hätte, wäre man unvorsichtig aufgestanden, ohne den Ruderern am anderen Bord zuzurufen, sich überzulehnen und das Gleichgewicht herzustellen. Wir hatten vom Insektenstich furchtbar gelitten, aber das ungesunde Klima hatte uns nichts angehabt; wir waren, ohne umzuschlagen, über eine ganze Menge Wasserfälle und Flussdämme gekommen, welche die Stromfahrt sehr beschwerlich und oft gefährlicher machen als lange Seereisen. Nach allem, was wir bis jetzt durchgemacht, wird es mir hoffentlich gestattet sein auszusprechen, wie herzlich froh wir waren, dass wir die Nebenflüsse des Amazonas erreicht, und dass wir die Landenge zwischen zwei großen Flusssystemen hinter uns hatten und nunmehr mit Zuversicht der Erreichung des Hauptzwecks unserer Reise entgegensehen konnten, der astronomischen Aufnahme jenes Arms des Orinoco, der sich in den Rio Negro ergießt, und dessen Existenz seit einem halben Jahrhundert bald bewiesen, bald wieder in Abrede gezogen wurde. Ein Gegenstand, den man lange vor dem inneren Auge gehabt, wächst uns an Bedeutung, je näher wir ihm kommen. Jene unbewohnten, mit Wald bedeckten, geschichtslosen Ufer des Cassiquiare beschäftigten damals meine Einbildungskraft, wie die in der Geschichte der Kulturvölker hochberühmten Ufer des Euphrat und des Oxus. Hier, inmitten des neuen Kontinents, gewöhnt man sich beinahe daran, den Menschen als etwas zu betrachten, das nicht notwendig zur Naturordnung gehört. Der Boden ist dicht bedeckt mit Gewächsen, und ihre freie Entfaltung findet nirgends ein Hindernis. Eine mächtige Schicht Dammerde weist darauf hin, dass die organischen Kräfte hier ohne Unterbrechung fort und fort gewaltet haben. Krokodile und Boas sind die Herren des Stroms, der Jaguar, der Pecari, der Tapir und die Affen streifen durch den Wald, ohne Furcht und ohne Gefährdung, sie hausen hier wie auf ihrem angestammten Erbe. Dieser Anblick der lebendigen Natur, in der der Mensch nichts ist, hat etwas Befremdendes und Niederschlagendes. Selbst auf dem Ozean und im Sande Afrikas gewöhnt man sich nur schwer daran, wenn einem auch da, wo nichts an unsere Felder, unsere Gehölze und Bäche erinnert, die weite Einöde, durch die man sich bewegt, nicht so stark auffällt. Hier, in einem fruchtbaren Land, geschmückt mit unvergänglichem Grün, sieht man sich umsonst nach einer Spur von Wirksamkeit des Menschen um; man glaubt sich in eine andere Welt versetzt als die uns geboren. Ein Soldat, der sein ganzes Leben in den Missionen am oberen Orinoco zugebracht hatte, war einmal mit uns am Strome gelagert. Er war ein gescheiter Mensch, und in der ruhigen, heiteren Nacht richtete er an mich Frage um Frage über die Größe der Sterne, über die Mondbewohner, über tausend Dinge, von denen ich so viel wusste wie er. Meine Antworten konnten seiner Neugier nicht genügen, und so sagte er in zuversichtlichem Ton: „Was die Menschen anbelangt, so glaube ich, es gibt da oben nicht mehr als ihr angetroffen hättet, wenn ihr zu Land von Javita an den Cassiquiare gegangen wäret. In den Sternen, meine ich, ist eben wie hier eine weite Ebene mit hohem Gras und ein Wald (mucho monte), durch den ein Strom fließt.“ Mit diesen Worten ist ganz der Eindruck geschildert, den der eintönige Anblick dieser Einöde hervorbringt.

Alexander von Humboldt's Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents
In deutscher Bearbeitung von Hermann Hauff
(Einzige von A.v.H. anerkannte Ausgabe in deutscher Sprache)
Band 5, Stuttgart 1861

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