1800 - Alexander von Humboldt
Über die Jesuitenherrschaft
Am Orinoco
Beim Einfluss des Paruasi wird der Orinoco wieder schmaler. Gegen Osten sahen wir einen Berg mit plattem Gipfel, der wie ein Vorgebirge herantritt. Er ist gegen 300 Fuß hoch und diente den Jesuiten als fester Platz. Sie hatten ein kleines Fort darauf angelegt, das drei Batterien enthielt und in dem ständig ein Militärposten lag. In Carichana und Atures sahen wir die Kanonen ohne Lafetten, halb im Sand begraben. Die Jesuitenschanze (oder Fortalezza de San Francisco Xavier) wurde nach Aufhebung der Gesellschaft Jesu zerstört, aber der Ort heißt noch el Castillo. Auf einer in neuster Zeit in Caracas von einem Weltgeistlichen entworfenen, nicht gestochenen Karte führt derselbe den seltsamen Namen Trinchera des despotismo monacal (Schanze des Mönchsdespotismus). In allen politischen Umwälzungen spricht sich der Geist der Neuerung, der über die Menge kommt, auch in der geografischen Nomenklatur aus.
Die Besatzung, welche die Jesuiten auf diesem Felsen hatten, sollte nicht allein die Missionen gegen die Einfälle der Caraiben schützen, sie diente auch zum Angriffskrieg, oder, wie man hier sagt, zur Eroberung von Seelen (conquista de almas). Die Soldaten, durch die ausgesetzten Geldbelohnungen angefeuert, machten mit bewaffneter Hand Einfälle oder Entradas auf das Gebiet unabhängiger Indianer. Man brachte um, was Widerstand zu leisten wagte, man brannte die Hütten nieder, zerstörte die Pflanzungen und schleppte Greise, Weiber und Kinder als Gefangene fort. Die Gefangenen wurden sofort in die Missionen am Meta, Rio Negro und oberen Orinoco verteilt. Man wählte die entlegensten Orte, damit sie nicht in Versuchung kämen, wieder in ihr Heimatland zu entlaufen. Dieses gewaltsame Mittel, Seelen zu erobern, war zwar nach spanischem Gesetz verboten, wurde aber von den bürgerlichen Behörden geduldet und von den Oberen der Gesellschaft als der Religion und dem Aufkommen der Missionen förderlich höchlich gepriesen. „Die Stimme des Evangeliums“, sagt ein Jesuit vom Orinoco in der „erbaulichen Briefen“ (Cartas edificantes de la Compañia de Jesus, 1757) äußerst naiv, „wird nur da vernommen, wo die Indianer Pulver haben knallen hören (el eco de la polvora). Sanftmut ist ein gar langsames Mittel. Durch Züchtigung erleichtert man sich die Bekehrung der Eingeborenen.“ Dergleichen die Menschheit schändende Grundsätze wurden sicher nicht von allen Gliedern einer Gesellschaft geteilt, die in der Neuen Welt und überall, wo die Erziehung ausschließlich in den Händen von Mönchen geblieben ist, der Wissenschaft und der Kultur Dienste geleistet hat. Aber die Entradas, die geistlichen Eroberungen mit dem Bajonett waren einmal ein von einem Regiment, bei dem es nur auf rasche Ausbreitung der Missionen ankam, unzertrennlicher Gräuel. Es tut dem Gemüt wohl, dass die Franziskaner, Dominikaner und Augustiner, welche gegenwärtig einen großen Teil von Südamerika regieren und, je nachdem sie von milder oder roher Sinnesart sind, auf das Geschick von vielen Tausenden von Eingeborenen den mächtigsten Einfluss üben, nicht nach jenem System verfahren. Die Einfälle mit bewaffneter Hand sind fast ganz abgestellt, und wo sie noch vorkommen, werden sie von den Ordensoberen missbilligt. Wir wollen hier nicht ausmachen, ob diese Wendung des Mönchsregiments zum Besseren daher rührt, dass die frühere Tätigkeit erschlafft ist und der Lauheit und Indolenz Platz gemacht hat, oder ob man darin, was man so gern täten, einen Beweis sehen soll, dass die Aufklärung zunimmt und eine höhere, dem wahren Geist des Christentums entsprechendere Gesinnung Platz greift.
Alexander von Humboldt's Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents
In deutscher Bearbeitung von Hermann Hauff
(Einzige von A.v.H. anerkannte Ausgabe in deutscher Sprache)
Band 4
Stuttgart 1861