Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1800 - Alexander von Humboldt
Im Urwald
Venezuela

Wenn ein eben aus Europa angekommener Reisender zum ersten Mal die Wälder Südamerikas betritt, so hat er ein ganz unerwartetes Naturbild vor sich. Alles, was er sieht, erinnert an nur entfernt an die Schilderungen, welche berühmte Schriftsteller an den Ufern des Mississippi, in Florida und in anderen gemäßigten Ländern der Neuen Welt entworfen haben. Bei jedem Schritt fühlt er, dass er sich nicht an den Grenzen der heißen Zone befindet, sondern mitten darin, nicht auf einer der antillischen Inseln, sondern auf einem gewaltigen Kontinent, wo alles riesenhaft ist, Berge, Ströme und Pflanzenmassen. Hat er Sinn für landschaftliche Schönheit, so weiß er sich von seinen mannigfaltigen Empfindungen kaum Rechenschaft zu geben. Er weiß nicht zu sagen, was mehr sein Staunen erregt, die feierliche Stille der Einsamkeit oder die Schönheit der einzelnen Gestalten und ihre Kontraste, der die Kraft und Fülle des vegetabilischen Lebens. Es ist, als hätte der mit Gewächsen überladene Boden gar nicht Raum genug zu ihrer Entwicklung. Überall verstecken sich die Baumstämme hinter einem grünen Teppich, und wollte man all die Orchideen, die Pfeffer- und Pothosarten, die auf einem einzigen Heuschreckenbaum oder amerikanischen Feigenbaum (Ficus gigantea) wachsen, sorgsam verpflanzen, so würde ein ganzes Stück Land damit besetzt. Durch diese verwunderliche Aufeinanderhäufung erweitern die Wälder wie die Fels- und Gebirgswände den Bereich der organischen Natur. Dieselben Lianen, die am Boden kriechen, klettern zu den Baumwipfeln empor und schwingen sich, mehr als hundert Fuß hoch, von einem zum anderen. So kommt es, dass, da die Schmarotzergewächse sich überall durcheinander wirren, der Botaniker Gefahr läuft, Blüten, Früchte und Laub, die verschiedenen Arten angehören, zu verwechseln.
    Wir wanderten einige Stunden im Schatten dieser Wölbungen, durch die man kaum hin und wieder den blauen Himmel sieht. Er schien mir umso tiefer indigoblau, da das Grün der tropischen Gewächse meist einen sehr kräftigen, ins Bräunliche spielenden Ton hat. Zerstreute Felsmassen waren mit einem großen Baumfarn bewachsen, der sich vom Polypodium arboreum der Antillen wesentlich unterscheidet. Hier sahen wir zum ersten Mal jene Nester in Gestalt von Flaschen der kleinen Taschen, die an den Ästen der niedrigsten Bäume aufgehängt sind. Es sind Werke des bewunderungswürdigen Bautriebs der Drosseln, deren Gesang sich mit dem heiseren Geschrei der Papageien und Aras mischte. Die letzteren, die wegen der lebhaften Farben ihres Gefieders allgemein bekannt sind, flogen nur paarweise, während die eigentlichen Papageien in Schwärmen von mehreren hundert Stück umherfliegen. Man muss in diesen Ländern, besonders in den heißen Tälern der Anden, gelebt haben, um es für möglich zu halten, dass zuweilen das Geschrei dieser Vögel das Brausen der Bergströme, die von Fels zu Fels stürzen, übertönt.

Alexander von Humboldt's Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents
In deutscher Bearbeitung von Hermann Hauff
(Einzige von A.v.H. anerkannte Ausgabe in deutscher Sprache)
Band 2, Stuttgart 1861

Reiseliteratur weltweit - Geschichten rund um den Globus. Erlebtes und Überliefertes aus allen Teilen der Welt. Entdecker – Forscher – Abenteurer. Augenzeugenberichte aus drei Jahrtausenden. Die Sammlung wird laufend erweitert – Lesen Sie mal wieder rein!