Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1802 - Alexander von Humboldt
Die Straßen der Inka
Ecuador

Der ernste Eindruck, welchen die Wildnisse der Cordilleren hervorrufen, wird auf eine merkwürdige und unerwartete Weise dadurch vermehrt, daß gerade noch in ihnen bewundernswürdige Reste von der Kunststraße der Incas, von dem Riesenwerke sich erhalten haben, durch welches auf einer Länge von mehr als 250 geographischen Meilen [1.855 km] alle Provinzen des Reichs in Verbindung gesetzt waren. Stellenweise, meist in gleichen Entfernungen, finden sich aus wohlbehauenen Quadersteinen aufgeführte Wohnhäuser, eine Art Caravanserais, Tambos, auch Inca-Pilca (von pircca, die Wand?) genannt. Einige sind festungsartig umgeben, andere zu Bädern mit Zuleitung von warmem Wasser eingerichtet, die größeren für die Familie des Herrschers selbst bestimmt. Ich hatte bereits am Fuß des Vulkans Cotopaxi bei Callo solche wohlerhaltenen Gebäude (Pedro de Cieça nannte sie im 16ten Jahrhundert Aposentos de Mulalo mit Sorgfalt gemessen und gezeichnet. Auf dem Andespaß zwischen Alausi und Loxa, den man den Paramo del Assuay nennt (14.568 Fuß [4.732 m] über dem Meere, also ein viel besuchter Weg über die Ladera de Cadlud fast in der Höhe des Montblanc), hatten wir in der Hochebene del Pullal große Mühe unsere schwer belasteten Maulthiere durch den sumpfigen Boden durchzuführen, während neben uns in einer Strecke von mehr als einer deutschen Meile unsere Augen ununterbrochen auf die großartigen Reste der 20 Fuß breiten Inca-Straße geheftet waren. Es hatte dieselbe einen tiefen Unterbau und war mit wohlbehauenem, schwarzbraunem Trapp-Porphyr gepflastert. Was ich von römischen Kunststraßen in Italien, dem südlichen Frankreich und Spanien gesehen, war nicht imposanter als diese Werke der alten Peruaner; dazu finden sich letztere nach meinem Barometer-Messungen in der Höhe von 12.440 Fuß [4040 m]. Diese Höhe übersteigt demnach den Gipfel des Pic von Teneriffa um mehr als tausend Fuß. Eben so hoch liegen am Assuay die Trümmer des sogenannten Palastes des Inca Tupac Yupanqui, welche unter dem Namen der Paredones del Inca bekannt sind. Von ihnen führt südlich gegen Cuenca hin die Kunststraße nach der kleinen, aber wohl erhaltenen Festung des Canar, wahrscheinlich aus derselben Zeit des Tupac Yupanqui oder seines kriegerischen Sohnes Huayna Capac.
    Noch herrlichere Trümmer der alt-peruanischen Kunststraßen haben wir auf dem Wege zwischen Loxa und dem Amazonenstrome bei den Bädern der Incas auf dem Paramo de Chulucanas, unfern Guancabamba, und um Ingatambo bei Pomahuaca gesehen. Von diesen Trümmern liegen die lezteren so wenig hoch, daß ich den Niveau-Unterschied zwischen der Inca-Straße bei Pomahuaca und der Inca-Straße des Paramo del Assuay größer als 9100 Fuß gefunden habe. Die Entfernung beträgt in gerader Linie nach astronomischen Breiten genau 46 geographische Meilen [341  km], und das Ansteigen der Straße ist 3500 Fuß mehr als die Höhe des Passes vom Mont Cenis über den Comer See. Von den zwei Systemen gepflasterter, mit platten Steinen belegter, bisweilen sogar mit cementirten Kieseln überzogener (maca-damisirter) Kunststraßen gingen die einen durch die weite und dürre Ebene zwischen dem Meeresufer und der Andeskette, die anderen auf dem Rücken der Cordilleren selbst. Meilensteine gaben oft die Entfernungen in gleichen Abständen an. Brücken dreierlei Art, steinerne, hölzerne oder Seilbrücken (Puentes de Hamaca oder de Maroma), führten über Bäche und Abgründe; Wasserleitungen zu den Tambos (Hotellerien) und festen Burgen. Beide Systeme von Kunststraßen waren nach dem Centralpunkte Cuzco, dem Sitz des großen Reiches (Br. 13° 31' südl.), gerichtet; die Höhe dieser Hauptstadt ist nach Pentland's Garte von Bolivia 10.676 Fuß (Pariser Maaßes) über dem Meeresspiegel. Da die Peruaner sich keines Fuhrwerkes bedienten, die Kunststraßen nur für Truppenmarsch, Lastträger und Schaaren leicht bepackter Lamas bestimmt waren; so findet man sie, bei der großen Steilheit des Gebirges, hier und da durch lange Reihen von Stufen unterbrochen, auf denen Ruheplätze angebracht sind. Francisco Pizarro und Diego Almagro, die sich mit so vielem Vortheil auf ihren weiten Heerzügen der Militär-Straßen der Incas bedienten, fanden für die spanische Reiterei eine besondere Schwierigkeit da, wo Stufen und Treppen die Kunststraße unterbrachen. Das Hinderniß war um so größer, als die Spanier sich im Anfang der Conquista bloß der Pferde, nicht der bedächtigen, im Gebirge jeden Fußtritt gleichsam überdenkenden Maulthiere bedienten. Erst später kam der Gebrauch der Maulthiere in der Reiterei auf.
    Sarmiento, der die Inca-Straßen noch in ihrer ganzen Erhaltung sah, fragt sich in einer Relacion, die lange in der Bibliothek des Escorial unbenutzt vergraben lag: »wie ein Volk ohne Gebrauch des Eisens in hohen Felsgegenden so prachtvolle Werke (caminos tan grandes y tan sovervios), von Cuzco nach Quito und von Cuzco nach der Küste von Chili, habe vollenden können?« »Kaiser Carl«, setzt er hinzu, »würde mit aller seiner Macht nicht einen Theil dessen schaffen, was das wohl eingerichtete Regiment der Incas über die gehorchenden Volksstämme vermochte.« Hernando Pizarro, der gebildetste der drei Brüder, welcher für seine Unthaten in zwanzigjähriger Gefangenschaft zu Medina del Campo büßte und hundertjährig starb im Geruch der Heiligkeit (en olor de Santidad), ruft aus: »In der ganzen Christenheit sind so herrliche Wege nirgends zu sehen als die, welche wir hier bewundern.« Die beiden wichtigen Residenzstädte der Incas, Cuzco und Quito, sind in gerader Linie (SSO - NNW), ohne die vielen Krümmungen des Weges in Anschlag zu bringen, 225 geographische Meilen [1.670  km] von einander entfernt; mit den Krümmungen rechnen Garcilaso de la Vega und andere Conquistadores 500 leguas. Trotz dieser Länge des Weges ließ Huayna Gapac, dessen Vater Quito erobert hatte, nach dem sehr vollgültigen Zeugniß des Licentiaten Polo de Ondegardo, für die fürstlichen Bauten (Inca-Wohnungen) in Quito gewisse Baumaterialien aus Cuzco kommen. Ich habe selbst noch an dem ersteren Orte diese Sage unter den Eingebornen verbreitet gefunden.
    Wo durch Gestaltung des Bodens die Natur dem Menschen großartige Hindernisse zu überwinden darbietet, wächst bei unternehmenden Volksstämmen mit dem Muth auch die Kraft. Unter dem despotischen Centralisations-Systeme der Inca-Herrschaft waren Sicherheit und Schnelligkeit der Communication, besonders der Truppenbewegung, ein wichtiges Regierungsbedürfniß. Daher die Anlage von Kunststraßen und von sehr vervollkommneten Post-Einrichtungen.

Humboldt, Alexander von
Ansichten der Natur
Erstausgabe Berlin 1807

Reiseliteratur weltweit - Geschichten rund um den Globus. Erlebtes und Überliefertes aus allen Teilen der Welt. Entdecker – Forscher – Abenteurer. Augenzeugenberichte aus drei Jahrtausenden. Die Sammlung wird laufend erweitert – Lesen Sie mal wieder rein!