Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

Mai 1883 - Joseph Thomson
Bei den Massai am Kalten Fluß

Doch jetzt blicke weiter vorwärts, gütiger Leser! In der Nähe einer dunkeln Linie von Bäumen, welche deutlich den Lauf des Ngare n'Erobi (kalter Fluss) in der sonst baumlosen Niederung ringsum kennzeichnen, sieht man in der klaren Morgenluft wirbelnde Rauchsäulen aufsteigen, und von ihnen weg lange dunkle Linien, wie die schwarzen Heersäulen eines vorrückenden Feindes, auftauchen. Der Rauch verrät die Kraals der Massai und die vorrückenden Linien sind ihre sich zu den Weideplätzen begebenden Rinderherden. Denkt man sich dazu eine lange Reihe von Leuten, welche im Gänsemarsch über diese Prairie einherziehen mit Kisten, Ballen, Bündeln von Eisendraht u. s. w. auf dem Kopf und angeführt von mir selbst, während Martin den Nachtrab abschliesst und ein durchdringend kalter Wind, wie der Frühjahrswind im Bergland, uns eisig durchschauert, so hat man so ziemlich das Bild, welches sich uns an jenem denkwürdigen Aprilmorgen darbot. Nach dem Rahmen zum Bilde hat man nicht lange zu suchen, der Kreis der Gebirge ringsum genügt vollständig. Zur Rechten erhebt sich der Meru mit in seinen einfachen, aber grossartigen Verhältnissen, gleichsam eine Säule des Eingangstors zu den Massai bildend. Zur Linken steht die gleich hohe Säule des Kibo. Von ihnen aus streckt sich eine fast ununterbrochene Reihe von Bergen im Kreise herum, die sich im Norden zu den malerischen Massen des Doenje-Erok und Ndapduk erheben und schliesslich sich zu den weniger auffälligen Bergreihen des Guaso n'Ebor (weisses Wasser) in der Richtung nach Ngurumani und den eisigen Höhen von Gelei verlieren, hinter welchen, von uns ungesehen, der noch tätige Vulkan Doenje-Engai liegt.
   Eilen wir jetzt vorwärts, denn der Tag ist schicksalsreich. Wie wir ausschreiten, beständig in Versuchung unsere "Schiesseisen" zu probieren, erscheinen die Massai. Zuerst erblicken wir ein Weib, gut gekleidet in Rindshaut und beladen mit Draht, Perlen und Ketten, welches einen Esel vor sich hertreibt und furchtlos seinen Weg nach Kibonoto nimmt, um dort die Pflanzenkost einzukaufen, welche die verheirateten Leute und die Kinder essen. Zwischen den Massai und Wadjagga ist Krieg, auf Leben und Tod, aber vertragsmässig dürfen die Weiber unbelästigt und ohne Schutz zwischen ihnen verkehren. Dann erblicken wir zwei, drei arme Kerle, welche die niedrige Arbeit, das Vieh zu hüten und zu treiben, verrichten. Wenn wir den Kraals näher kommen, beginnen die EI-Moran (Krieger oder unverheiratete Männer) truppweise nach der "letzten Neuigkeit" auszuschauen. Doch beeilen sie sich nicht näherzukommen. Sie beobachten uns gemächlich, ohne durch Wort oder Zeichen irgendwelches Staunen zu verraten. Indem wir an ihnen vorübergehen, pflücken wir Grasbüschel ab und drücken ihnen ernst die Hand. Sie als EI-Moran anredend, warten wir, bis ein unartikulierter Laut zu verstehen gibt, dass sie Ohren haben. Dann sagen wir "Subai", worauf sie "Ebai" antworten, und damit ist unsere Einführung vorüber. Die ungewohnten Manieren dieser Wilden machen tiefen Eindruck auf uns, da sie so verschieden sind von den Vorstellungen, welche wir uns über sie gemacht haben, aber wir marschieren weiter, ohne im geringsten durch Gedränge belästigt oder durch rohe Bemerkungen beleidigt zu werden.
   Vor Mittagszeit hatten wir die eiskalten Gewässer des Ngare n'Erobi erreicht, welcher in seiner vollen Mächtigkeit am Fusse des Berges entspringt. Wir schlugen unser Lager in einer scharfen Krümmung des Flusses auf, wo er einen Flecken ebenen Rasens fast ganz umschliesst. Unsere erste Sorge war natürlich die Boma herzustellen, und uns vollständig zu verschanzen. Soweit war ja alles glatt abgelaufen, aber ich war doch durch meine unerwartete Aufnahme etwas verwirrt und hatte das Gefühl, als ob uns von irgendeiner Seite Gefahr drohe.
   Die Nachricht von unserer Ankunft verbreitete sich schnell. Die Massai, Männer und Frauen, begannen sich im Lager anzusammeln, und wir beobachteten uns gegenseitig mit gleichem Interesse. Die Weiber glichen den Männern aufs Haar. Von schlanker, wohlgebauter Gestalt hatten sie glänzend schwarze Augen, die nach mongolischer Art schmal und etwas schief aufwärts gerichtet waren. Ihre Gesichter waren entschieden "damenartig" (für Eingeborene) und verrieten ihre Gedanken in verschiedener Weise. Offenbar fühlten sie sich als eine überlegene Rasse, gegen welche alle anderen lediglich Sklaven seien.
   Nachdem die Zelte aufgeschlagen, gut befestigt und vor den durchdringenden Augen hinlänglich geschützt waren, auch eine starke Wache aufgezogen war, begann das ernstere Geschäft des Tages. Eisendraht, Perlen und Kleider wurden in das Zelt verpackt, so dass wir gerüstet waren, die schwarze Post auszuteilen - den "Django" dieser Gegend, den "Hongo" des weiter südlichen Districts. Wir brauchten nicht lange zu warten. Von weit her erscholl ein Kriegsgesang und bald erschien in all dem schmierigen Glanz einer neuen Auflage von rotem Lehm und Fett eine Schar El-Moran, im Gänsemarsch und im Takt nach dem Gesange marschierend, die mörderischen Speere im Sonnenglanze herumdrehend. An den Seiten trugen sie ihre schweren Schilde, auf welchen man die frisch gemalten heraldischen Wappen dieses besondern Stamms sehen konnte. In der Nähe unsres Lagers machten sie halt und vollführten eine Reihe durchaus militärischer Manöver. Als sie damit zu Ende waren, trat Muhninna vor und hielt mit ihnen in der bereits geschilderten manierlichen Weise eine Beratung ab.
   In dieser Unterhaltung wurde der von uns geforderte Betrag festgestellt. Für jede Gesellschaft (und sie bildeten ihrer sechs) mussten wir 6 Senenge (ein Senenge ist ein Bündel von 90 Eisendrahtringen von 38 cm Durchmesser, welche, von Knöchel zu Knöchel herum gelegt, eine Beinverzierung ausmachen), 5 Anzüge (Naiberes), 30 Eisenketten und 100 Perlenschnüre bezahlen. Das Schauspiel, welches bei der Verteilung der Beute folgte, blieb hinter meiner vorgefassten Meinung von ihren Manieren zurück, war aber keineswegs ermutigend. Die EI-Moran hatten Speere und Schilde abgelegt und standen im Kreise, fertig zum Zulangen. Meine mit dem Hongo beladenen Leute warfen denselben auf einmal mitten unter sie und eilten dann weg für ihr Leben. Mit gellendem Geschrei stürzen sich die Krieger auf die verschiedenen Artikel nach dem Grundsatz "jeder für sich und den Rest für die Gottlosen". Einige der Stärksten erobern sich den Löwenanteil. Im andern Fall haben zwei denselben Gegenstand gefasst. Vielleicht ist es ein Bündel Perlen, aber die Sache wird abgemacht, indem sie die Stränge zerreissen und jeder eine Hand voll mit sich nimmt, während ein grosser Teil der Perlen auf dem Boden verstreut wird. Haben die Streitenden aber ein Senenge ergriffen, so wird die Sache ernsthafter. Sie wüten und zerren wie zwei Hunde um einen Knochen, und wenn sie an Kräften sich gleich sind, so wird das Blut bald heiss, die Schwerter werden gezogen oder die Keulen geschwungen. Zwei Leute erhielten auf diese Art mehrere recht hässliche Fleischwunden, welche indessen von den Zuschauern keiner Beachtung gewürdigt wurden. Ein Rudel halbverhungerter und plötzlich auf eine Schar schwächerer Tiere losgelassener Wölfe hätte kein abstossenderes Schauspiel liefern können.
   Eine Gesellschaft nach der andern, jede von ihrem eigenen District, rückte heran und empfing diesen Tribut, und mein Mut sank, wie ich eine Ladung nach der andern verschwinden sah. Wie konnten wir hoffen, einige Tage weiter zu reisen, wenn unser Schicksal ein so trauriges sein sollte! Nachher mussten noch die EI-Morua (oder verheirateten Leute) ihren Teil empfangen, welcher freilich viel kleiner war und friedlicher geteilt wurde. Zum Schluss mussten auch noch die wichtigen Medizinmänner oder Leibons, Lengobe, Mbaratien und Lambarsacaut einzeln ebenso bedacht werden.
   Gegen Abend war das Lager von Leuten angefüllt, und in Erwiderung auf wiederholte Rufe nach dem weissen Leibon, die durch unverschämte Versuche, die Tür meines Zeltes aufzureissen, unterstützt wurden, musste ich heraustreten und ihnen mein Compliment machen, obgleich ich sie in meiner Seele verfluchte, da ich noch schwach, übel und reizbar von den wiederholten Fieberanfällen war, deren Wirkung man mir deutlich ansehen konnte. Mich ins Unvermeidliche fügend, setzte ich mich auf eine Kiste und war nun die Zielscheibe aller Augen. Sie hatten jetzt ihr ruhiges und würdevolles Betragen abgelegt und waren roh und aufdringlich geworden; die Ditto (junge unverheiratete Weiber) waren die unverschämtesten und zeigten nicht die leiseste Spur von Furcht.
   Eine Weile ertrug ich geduldig ihre langweiligen Aufmerksamkeiten, liess sie meine Stirn berühren, mein Haar befühlen, die Ärmel meines Rocks aufheben und mit grösster Aufmerksamkeit meine Stiefel untersuchen. Zuletzt jedoch wurde ich gallig und gereizt, besonders über die wiederholten Versuche eines wild aussehenden Kriegers, meine Pumphosen aufzuschlagen, um die natürliche Haut darunter zu sehen und so gab ich ihm einen Fusstritt. Mit wutschäumendem Gesicht, welches einen geradezu teuflischen Ausdruck annahm, sprang er einige Schritte zurück und zog sein Schwert, um sich auf mich zu stürzen. Ich drückte mich jedoch seitwärts, wo ich rasch von meinen Wächtern umgeben wurde, während einige EI-Morua ihn festhielten und, weil er sich nicht beruhigen lassen wollte, wegführten.

Thomson, Joseph
Durch Massai-Land - Forschungsreise in Ostafrika
Leipzig 1885

Reiseliteratur weltweit - Geschichten rund um den Globus. Erlebtes und Überliefertes aus allen Teilen der Welt. Entdecker – Forscher – Abenteurer. Augenzeugenberichte aus drei Jahrtausenden. Die Sammlung wird laufend erweitert – Lesen Sie mal wieder rein!