1930 - Walter Mittelholzer
Kilimandjaro Flug
Da das Wetter für den nächsten Tag Gutes verspricht, lasse ich unsere Maschine für den Kilimandjaroflug klarstellen. Am 8. Januar frühmorgens um 5 Uhr fährt die Besatzung der "Switzerland III" im Auto der Shell Company, die unseren gesamten grossen Benzinbedarf vorzüglich befriedigt hat, durch die sternenklare Tropennacht hinaus auf den Flugplatz von Nairobi. Es gilt, die einsamen Höhen des Königs der afrikanischen Berge zu erreichen, bevor die Sonne durch ihre wärmenden Strahlen die Luftmassen turbulent und infolgedessen weniger tragfähig gemacht hat.
Im Scheinwerferlicht des Autos kontrolliert Wegmann die drei Motoren; Künzle und ich laden alles, was nicht niet- und nagelfest ist, aus den Gepäckräumen aus. Sogar das Sieb unseres Klosetts muss daran glauben, obwohl das gegen die europäische Vorschrift verstösst. Heute fliegen wir ja nicht über dicht bevölkerte Städte, so daß diese sonst entschieden berechtigte Einrichtung im glücklicherweise noch "freien Afrika" sicherlich nicht verlangt wird. Leider verzögert sich unser Start, da einige Zündkerzen ausgewechselt werden müssen. Für einen gewöhnlichen Überlandflug wäre ich sonst sicherlich auch bei etwas geringerer Tourenzahl des mittleren Motors gestartet, heute jedoch muss jeder von ihnen sein Äußerstes hergeben, soll unser Flug gelingen.
Um 6 Uhr 30 starten wir endlich über Herden von Zebras und Antilopen, die schon die ganze Zeit unsere Vorbereitungen vom Ende des Flugplatzes aus mit gespitzten Ohren verfolgt haben. Es hätte nicht viel gefehlt, so wären einige der wild auseinanderjagenden Grant-Gazellen unter unsere Räder gekommen, so nahe flitzen wir an ihnen vorbei. Doch im letzten Moment springen sie mit virtuoser Beweglichkeit seitwärts aus unserer Fahrbahn heraus.
Wir nehmen Kurs nach Süden. Schon nach wenigen Minuten sehen Künzle und ich vom Führerstand aus die charakteristischen Umrisse der zwei selbständigen Gipfel des Kilimandjaro, links den spitzen Kegel des Mawenzi, 5.143 Meter hoch, rechts davon den kalottenartigen, nach allen Seiten fast gleichmässig abgerundeten, hell schimmernden Schild des Kibo, 6.010 Meter hoch. Am 11. Mai 1848 war es, daß die Missionare Krapf und Rebmann als erste Weiße diese Berge erblickten. Erst im Jahre 1889 gelang es dem Deutschen Hans Meyer, den Kibo als Erster zu ersteigen und Kunde von seinem vergletscherten Kraterplateau zu bringen. Drei Schichtvulkane, die durch gegenseitige Überlagerung ihre Auswürfe zu einem riesigen Gebirge von 90 Kilometer Länge und 60 Kilometer Breite verschmolzen, bilden den Kilimandjaro. Der Schirakrater westlich des Kibo ist der kleinste und älteste der Vulkane. Dieser stark zerstörte Krater, der aus unserer grossen Flughöhe nur noch als ein unbedeutender Kamm des Kibo erscheint, dürfte einen Umfang von 5 Kilometern besessen haben. Nach der Entstehung des Schira bildete sich der Mawenzi, dessen östlicher Kraterrand bei Aschenausbrüchen zerstört und im Laufe der Jahrtausende durch die Verwitterung in steile Felstürme aufgelöst wurde. Erst später türmte sich der Kibo zwischen Mawenzi und Schira auf.
Die Athi-Hochebene versinkt rasch unter uns. Um 7 Uhr traversieren wir in einer Höhe von 4.000 Metern die Eisenbahnlinie, die die grossen Natronfabriken am Magadisalzsee mit der Ugandabahn verbindet. Eine trostlose baum- und strauchlose, braunrote Wüstenlandschaft dehnt sich wohl 100 Kilometer weit vor uns aus. In der Kabine stelle ich meine sämtlichen fünf Photo- und Kinoapparate aufnahmebereit in Reih und Glied, um sie in den Minuten stärksten Erlebens sofort zur Hand zu haben. Die Aussentemperatur war beim Start in 1.500 Meter Höhe über Meer 22 Grad Celsius, bei 2.000 Meter 20 Grad, bei 3.000 Meter 13 Grad, bei 4.000 Meter 7 Grad und jetzt, wo wir um 7 Uhr 25 bereits die respektable Höhe von 5.000 Meter erklettert haben, immer noch 3 Grad Wärme.
Wir passieren die grossen, blau spiegelnden Salzseen von Amboseli und Lopinya. Jetzt kommen wir in die Niederschlagzone des Kilimandjaro, die sich in der beginnenden Busch- und Waldzone unter uns deutlich abzeichnet. Auf Steuerbord sinken die Kraterberge des Erok (2.553 Meter) und Longido (2.614 Meter) zu kleinen, nichtssagenden Hügeln zusammen, während der Kibo seinen in makellosem Weiss glänzenden Eisschild immer noch hoch über uns in den dunkelblauen, wolkenlosen Himmel wölbt. Um 7 Uhr 45 zeigt der Höhenmesser 5.600 Meter an, die Außentemperatur ist unterdessen auf Minus 1 Grad Celsius gefallen. Trotzdem haben wir dank der Kabinenheizung in unserer Maschine eine angenehme Wärme von über 20 Grad.
Ich bin mir klar bewusst, daß nur dank des Aufwindes an der breiten Nordfront des Berges unser schweres Verkehrsflugzeug eine so abnormale Höhe von 6.000 Metern erreichen könnte. Deshalb halte ich mich von Anfang an im Bereich der aufwärts gerichteten Luftströmungen, wie sie seit einigen Jahren durch die Kunst des Segelfluges uns Fliegern eigentlich erst bekannt geworden sind. Da sich die Luftströmungen je nach dem Abstand vom Berg günstiger oder weniger günstig auswirken, gilt es, die beste Steiglage auszusuchen und auszunutzen. Vorsichtig betätigt Künzle das Höhensteuer, denn wir müssen noch gut 600 Meter steigen, wollen wir die Geheimnisse des Kraterbodens ergründen. Zieht er das Höhensteuer zu stark an, so steigt wohl der Bug unseres Flugzeuges, dafür aber sacken wir in der dünnen Höhenluft infolge des dadurch bedingten Geschwindigkeitsverlustes wiederum um die errungene Höhe hinunter. Schließlich haben wir jedoch mittelst Vergleichung des Geschwindigkeitsmessers mit dem Aneroid die günstigste Steiggeschwindigkeit herausgefunden, und zu unserer grossen Freude stellen wir fest, daß wir, wenn auch sehr langsam, an Höhe gewinnen. Aber auch ohne Höhenmesser spüre ich an mir selbst die grosse Höhe, denn im Vertrauen auf meine robuste Gesundheit habe ich keine Sauerstoffapparate mitgenommen. Während Künzle, der bis jetzt ohne die geringste körperliche Anstrengung fast bewegungslos am Steuer sitzt, noch keine Beschwerden fühlt, machen sich bei mir Kopfschmerzen und erhöhter Pulsschlag bemerkbar. Nach jeder Aufnahme, nach dem Drehen der Kinokurbel, muss ich tief Atem schöpfen. Der Sauerstoffmangel, der die Leistung unserer Motoren schon um mehr als die Hälfte vermindert bat, macht auch jede menschliche Tätigkeit viel anstrengender. Doch die freudige Aufregung, die angespannte Willenskraft lässt alle körperlichen Anstrengungen vergessen.
Zusehends sinkt das Eisdach Afrikas, scheinbar nur zentimeterweise, tiefer. Wir fliegen auf dessen Nord- und Ostseite, immer noch in respektvoller Entfernung bleibend, grosse Schleifen. Um 8 Uhr 30 erblicke ich über der konkaven Gletscherkappe der Ostflanke des Kibo den scharfen, in steilen Felswänden zum Krater abfallenden Südwestgrat, der den höchsten Punkt von 6.010 Metern aufweist. Diese Peilung ergibt, daß wir nun auch das sechste Tausend ab Meereshöhe erreicht haben. Für die noch fehlenden 200 bis 300 Meter, die für eine gefahrlose Überfliegung notwendig sind, brauchen wir noch weitere 10 Minuten Steigzeit. Unterdessen enthüllt sich uns ein ganz merkwürdiges, unerwartetes Bild. Auf der im Durchmesser wohl 5 bis 6 Kilometer betragenden Eiskalotte zeichnet sich im Zentrum der äussere Ring des alten, erloschenen Kraters mit scharfen Fels- und Eisrändern ab. Allmählich vertieft sich der Ring zu einer riesenhaften Arena, an deren Grund das 500 Meter breite Einbruchsloch des ehemaligen Feuerschlundes gähnt, gleichsam an das Riesenauge eines märchenhaften Gebildes längst vergangener Erdentage erinnernd. In der Mitte mit einer streng geometrischen Figur von gleichförmigen Ellipsen, die sich beim Höhersteigen zu konzentrischen Kreisen runden - so liegt, mit Eis- und Schneelappen bedeckt, der höchste Gipfel des schwarzen Kontinents zu unsern Füssen.
Wie oft habe ich nicht schon vom Flugzeug aus Dinge erschaut, die noch keines Menschen Auge vorher erblickt hatte, ohne dass ich dabei eine besondere Ergriffenheit verspürt hätte. So selbstverständlich erscheint uns Fliegern das neue Erleben. Heute aber, da ich aus bisher nie erlebter Höhe auf dieses phantastisch geformte, ungeheure Gipfeldach hinunterschaue, da sich seine Geheimnisse Schlag auf Schlag enthüllen, durchströmt mich heiss die Freude des Gelingens, der Stolz des Entdeckers.
In 6.400 Meter Höhe donnert die "Switzerland" über den Kibo. Gerade über dem unheimlich tiefen Kraterloch wird sie von Böen erfaßt, daß ich mich fest anklammern muß, um nicht umgeschleudert zu werden. Während einer halben Stunde, in der ich Hunderte von Filmmetern drehe, ziehen wir grosse Kreise um und über den Kibo, dessen drei größte Eisströme, Credner-, Drygalski- und Penk-Gletscher, auf der Westseite über 1.200 Meter tief an den grauen Lavahängen hinunterfließen.
Der 5.355 Meter hohe Mawenzi droht östlich vom Kibo mit bizarren Felstürmen über einem wallenden Wolkenmeer, das sich in wenigen Stunden seit Sonnenaufgang gebildet hat und zusehends immer höher steigt. lch spare mir den Besuch dieser hohen Felsenburg für später auf, gebe Künzle das Zeichen zum Drosseln der Motoren und zum Rückflug nach Nairobi. Plötzlich bemerke ich, daß sein Gesicht einen bleichen, fahlen Ausdruck erhält, mit dunklen Rändern um die Augen. Er klagt über fürchterliche Kopfschmerzen, so daß ich das Steuer der Maschine übernehme, damit er sich in der Kabine erholen kann. Doch in der warmen Luft wird sein Zustand nicht besser, er erbricht sich und kommt, sichtlich frischer aussehend, wieder nach vorn ans Steuer.
Obwohl unsere Motoren fast ganz abgestellt sind, sinken wir nur langsam. Wie ein leibhaftiger Riesenvogel segelt unsere nur leicht beladene Maschine in der immer unruhiger werdenden Luft. Während einer Spirale in etwa 4.000 Metern Höhe über dem Amboseli-Salzsee sehe ich, wie der Gipfel des Kibo allmählich in Wolken untertaucht. Bald ist er in den kalten Schnee- und Eiswolken, die die Besteigung des Berges so gefährlich machen, unseren Blicken für immer entzogen.
Etwas ermüdet von all dem Glanz der Eisregionen und der unaufhörlichen Spannung lande ich um 10 Uhr 40 nach gut vierstündigem Höhenflug auf dem Flugplatz von Nairobi.
Mittelholzer, Walter
Kilimandjaro Flug
Zürich und Leipzig 1930