Reiseliteratur weltweit

Geschichten rund um den Globus

1913 - Hans Reck
Der Fund des Menschenskelettes
Oldowayschlucht (Olduvai), Tansania

Im Halbschlaf hörte ich in der Dämmerung das Horn des Jumben [Lagerverwalter], das Antreten der Leute, Manjongas Stimme bei der Arbeitseinteilung, das Ausziehen der Trupps - es war unendlich wohltuend, sich dazu auf die andere Seite zu legen und weiterschlafen zu können, bis die Sonne zu warm wurde. Das behagliche Aufstehen mit reiner Wäsche und Waschen in aller Gemütsruhe war ein lange nicht mehr dagewesener Genuß, und dann erst das Frühstück mit Marmelade, frischem Ngorongorobrot und Schinken - alles, ohne daß einem sofort Teller und Tasse und Zelt weggerissen werden zum Einpacken.
   Ganz ebenso räkelten sich meine Reisebegleiter drüben auf der andern Seite des Kraals vor den Hütten bei ihren dampfenden Kochtöpfen und freuten sich ihrer Ruhe und ihres Futters. Zwei Rast- und Essenstage mit doppelten Rationen hatte ich ihnen und mir selbst zur Erholung von der auszehrenden Hunger- und Marschkur der letzten Wochen bewilligt.
   Im und am Lager hatte sich während unserer langen Abwesenheit manches verändert. Der Regen hatte alles in dichtes, tiefes Grün getaucht. Auf der Steppe wiegten sich die blühenden Gräser im Winde, die Büsche ringsum hatten schon Früchte angesetzt. Das Wild war über das endlose Grasmeer verteilt, das ihm jetzt überreiche Nahrung bot. Der Tau der Nacht hing allmorgendlich in großen Tropfen an jedem Halme und gab den Tieren das nötige Naß. So sah man nur noch ganz vereinzelt von Zeit zu Zeit ein paar Kongonies im Grase stehen, gestreifte Zebras durch die Büsche ziehen oder irgendwo die dunklen Punkte einiger Gnus.
   Im Lager hatten Manjonga und Issa Namanorow weitergebaut. Sie schilderten mir, wie es überall durchgeregnet hatte und allenthalben der Raum zu knapp geworden war, weshalb neue Magazine und Hütten errichtet und die alten verstärkt und mit mehr Gras eingedeckt werden mußten. Sie hatten alles sehr ordentlich und achtsam gemacht. Das Lager mit seinen unübersichtlichen, dunklen, verschlungenen Gassen kam mir wie ein Klein-Sansibar vor, als ich hinter den beiden her tief gebückt unter den niederen Strohdächern durch die winkligen, engen Durchlässe zwischen den einzelnen Hütten durchkroch, um alles in Augenschein zu nehmen. Mein erster Gedanke war - auch ganz wie in Sansibar - Herrgott, wenn hier ein Feuer ausbricht! Aber dagegen war nichts zu machen, als auf ein gütiges Geschick zu vertrauen. Es hat Sansibar durch die Jahrhunderte erhalten, also würde es wohl auch meinem Kraal noch ein paar Wochen hold sein.
   Noch viel erstaunlicher war, was die Leute alles gefunden und in den Magazinen aufgestapelt hatten. Die Menge der Knochen durchzusehen, die sich da am Boden und auf den Tischen der Hütten angesammelt hatten, füllte die Zeit meiner Rasttage voll aus, soweit sie nicht durch Essen und Schlafen in Anspruch genommen waren.
   Der stärkste Eindruck war auf den ersten Blick die große Zahl der Riesenknochen, die überall herumlagen. Sie stammten meist von Elefanten. Die ersten erstaunlichen Funde aus der Zeit vor der Vulkanreise hatten sich vervielfacht. Aus den verschiedenen Gräben hatten sich inzwischen ziemlich alle Einzelteile des Knochengerüstes dieses ausgestorbenen Oldowayelefanten eingestellt. Zum Teil sehr gut erhaltene und vollständige Reste von wenigstens zwölf Tieren lagen nun im Magazin, meist voll erwachsenen Individuen zugehörig, nicht jungen oder ganz alten, etwa an Altersschwäche eingegangenen Elefanten. Das war zu Beurteilung ihrer Todesart, also auch der Bildung der Lagerstätte, ein sehr wichtiger Hinweis. Unter einem Tisch lag ein ganzes Becken mit den gewaltigen Flächen seiner beiden Sitzbeine, daneben stand, fest vom umhüllenden Gestein zusammengehalten, ein ganzer Fuß und zeigte den Aufbau seiner feinen Einzelknochen noch in natürlicher Lage. Gerade solche Stücke bezeugten, daß das zugehörige Tier wenn nicht an Ort und Stelle verendet, so doch bald nach seinem Tode und höchstens kurzem Transport hier eingebettet worden sein mußte, sonst bliebe solcher Zusammenhalt auch der zarten Teile des Gerippes unverständlich. Wieder an anderer Stelle waren die breitsäbelförmigen Rippen eines Brustkorbes oder die Scheiben und feingebauten Fortsätze einer Wirbelsäule ordentlich hintereinander gereiht aufbewahrt, ganz wie sie im Graben gefunden und aus der Lebenszeit des Tieres überkommen waren.
   Auf einem Tisch waren die Zähne zusammengetragen. Über ein Dutzend der schmalen, schweren Mahlzähne, teilweise noch in ihren Kieferknochen steckend, standen da herum, in einem Falle war sogar ein ganzer Unterkiefer mit allen Zähnen beider Äste geborgen worden. Und quer über den Tisch liegend, seine ganze Länge einnehmend, prunkten die langen Stoßzähne, deutlich verschieden bei Männchen und Weibchen, die einen kürzer, massiger, die anderen schlanker und länger, alle von vollendet formenschönem Schwung ihrer nur leichten Krümmung.
   Nur ein Lücke blieb, und die blieb leider bis zum heutigen Tage offen - von den Schädeln der Riesentiere wurde, von ein paar unbrauchbaren Bruchstücken abgesehen, nichts gefunden. Sie noch zu ergraben, ist eine Aufgabe der Zukunft. Sonst aber ist von dem Knochengerüst dieser Riesenelefanten fast jedes Einzelstück durch wohlerhaltene Funde belegt, so daß sein Bau dank der sorgfältigen Untersuchung des Materials durch Dr. Dietrich heute gut bekannt ist.
   Die andere Hauptgruppe der Funde, die Antilopen, war durch nicht weniger reiches Material vertreten. Hier waren es nicht so sehr frisch angelegte Gräben, als vielmehr die Vergrößerung der alten, schon vor der Reise begonnenen, welche neue Überraschungen gebracht hatten. Da war vor allem ein Schädel, wie er weder von lebenden noch von versteinerten Antilopen ähnlich bisher bekannt war, ein Tier mit mäßig starkem Gehörn, aber mit gewaltigen, nach vorn so weit herabgebogenen Nasenbeinen, daß diese Antilope einen Rüssel getragen haben muß. (Rhynotragus semiticus). Ein anderer, ebenfalls starker Schädel war das Überbleibsel eines viergehörnten Tieres. Das rückwärtige Hornpaar war nahe dem Sockel rettichartig dick angeschwollen und lief nach oben in leichtem Bogen rasch zu dünnen, nach vorn weisenden Spitzen aus. Das zweite Gehörnpaar war kurz und verkümmert, und seine Zapfenstummel saßen, ebenfalls vorwärts schauend, vor den Sockeln der Haupthörner über der Stirne (Thaleroceros raiciformis). Ein weiterer Antilopenschädel (Adenota recki) war zwar viel kleiner und zarter, aber nicht weniger bedeutsam dadurch, daß sein Bau gemischte Merkmale von Antilopen und Gazellen aufwies.
   Zeigen nun aber diese Beispiele, die sich vermehren ließen, Reste von Tieren, die heute nicht mehr leben und auch fossil in Oldoway zum erstenmal auftauchten, so gab es andererseits Schädel, wie etwa von Elenantilopen, Schraubenantilopen, Gnus und dergleichen, die von ihren heute noch über die Steppe ziehenden Nachkommen kaum oder gar nicht zu unterscheiden sind.
   Man erkennt aus diesem Überblick ein sehr wichtiges Merkmal der damaligen, diluvialen Tierwelt: Sie war anders zusammengesetzt als die heutige. Sie ist schon so alt, daß altertümliche, aus der Tertiärzeit in sie hineinragende Überbleibsel inzwischen gänzlich ausgestorben sind, sie ist aber noch so jung, daß ein anderer Teil von lebensfähigem Stamme sich fast unverändert durch alle Wechsel der äußeren Verhältnisse bis heute erhalten hat.
   Eins der besten Beispiele für diesen Doppelzug der Tierwelt liefern die Pferde. Nebeneinander lebten dort Formen, die zum einen Teil den heutigen Zebras der umgebenden Steppe aufs nächst verwandt sind, zum andern Teil aber noch dreizehig waren, also einem Pferdeahnen angehören, der bisher als ein charakteristisches Leitfossil des jüngsten Abschnitts der Tertiärzeit galt. Erstmals erschien er hier in Oldoway noch als Zeitgenosse einer diluvialen Tiergemeinschaft.
   Aber nicht nur nach Stamm- und Formenvergleich mit der Tierwelt von heute überraschende Reste führte mir Manjonga in seinen Magazinen vor, sondern auch Tiere, die, nach dem Charakter der jetzigen Landschaft beurteilt, in Oldoway überhaupt nicht zu vermuten waren.
   Hierher gehören die Fische. Überreste von Panzerfischen waren an mehreren Stellen gefunden worden. Wenn dies auch Fische sind, die - wie etwa ihr heute noch reichliches Vorkommen im Manjarasee zeigt - kurze Austrockungsperioden des Seegrundes dadurch überleben, daß sie sich in den Schlamm einwühlen und eine Art Winterschlaf halten, so setzen sie doch ausgedehnte Wasserflächen für den größten Teil des Jahres in ihrem Lebensbezirk voraus - eine Forderung, der heute Oldoway wie sein ganzes Serengetiumland an keiner Stelle mehr entspricht.
   Ebenso eindeutig auf Wasser als Lebenselement hinweisende Dokumente aus dem Knochenarchiv der alten Oldowayfauna sind die Flußpferdreste, von denen mir Manjonga neben mancherlei andrem Gebein einen prächtigen Schädel vorführte. Diese Oldowayflußpferde waren an Schwimmen und Leben im Wasser sogar noch besser angepaßt als ihre heute lebenden, ihnen im übrigen sehr nahestehenden afrikanischen Verwandten, weshalb ihnen Dr. Dietrich, der auch diese Tiergruppe bearbeitet hat, einen besonderen Artnamen gab. Sie trugen hohe, knöcherne Sockel über der Stirne, auf denen die Augen weit über den Schädel herausgehoben ruhten und entsprechend freieren Umblick hatten, eine natürliche Entwicklung, wie sie in der Technik des Menschen etwa das Periskop eines Tauchbootes zeigt.
   Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um eine überraschende Eigenart der aus ihren Gräbern erstandenen diluvialen Tierwelt Oldoways zu zeigen. Wichtiger, als noch auf ihre Einzelzüge einzugehen, dürfte es sein, kurz die Frage zu streifen: Was sagen diese Knochen aus über den Lebensrahmen ihrer einstigen Besitzer? Über Klima und Landschaft, die sie umgaben?
   Oldoway kann damals, zur Zeit des mittleren oder älteren Diluviums also, keineswegs das Durstland, die Trockensteppe gewesen sein wie heute. Kein Balbalgraben begrenzte es nach Osten, keine Schlucht kam von der Serengeti herab aus dem Westen. Die innerafrikanische Hochfläche führte unzertalt und unzerbrochen, nur randnah vielleicht ein wenig abgebogen, bis an den Fuß der Vulkane im Osten heran, unter denen sie verschwand. Es war eine warme, aber regenreiche Zeit, deren Wasserüberfluß sich vor dem Fuße des vulkanischen Riegels zum weiten, flachen See staute. Die tätigen Feueressen waren damals noch in vollem Aufbau begriffen und überschütteten bei ihren Ausbrüchen immer wieder weithin den See und sein Uferland, das jetzige Oldowaygebiet, mit ihren Laven, Aschen und giftigen Gasen.
   Sie verwüsteten dort ein Gebiet regsten Lebens. Am schlammigen Seegrunde standen Welse und Muscheln, im Uferschilf lauerten Krokodile und träumten die Flußpferde. Hochbeinige Vögel stelzten am Ufer herum, und in den anschließenden grünen Steppen im Westen lebten die Rudel der Antilopen, der Pferde, der Gnus, wie heute beschlichen von Löwen, Leoparden und wilden Hunden. Drüben im östlichen Vulkanlande herrschte wohl der Wald, soweit die Vulkane das zuließen. Dort standen die Büffel und Elefanten in großen Herden und traten abends und morgens heraus zur Tränke am Ufer des Sees, zur Weide im offenen Graslande. Und in den Schluchten schliefen die Nashörner, bellten die Affen - alles ganz ähnlich den Bildern, wie sie das Klima, die Landschaft Afrikas auch heute noch kennt - nur an anderem, feuchteren Ort, und die Bühne des Lebens zum Teil besetzt mit anderen Figuren, anderen Tieren.
   Zum Bilde des Lebens gesellt sich das des Sterbens. Die große Ansammlung der Kadaver im alten See entspricht nicht dem, was heute die innerafrikanischen Seeböden zeigen. Bei ihnen kennt man keine Ursache und keine Kräfte mehr, die diese Anreicherung zustande bringen. Ob man am Ufer des Manjarasees entlang oder über den trockenen Schlammboden des Magad geht, fast nie wird man die Knochen verendeten Wildes finden. Das Wild stirbt einsam im Busch, seine Knochen zerreißen, verschleppen Raubtiere und Aasfresser, Feuer und Wetter zerstören die Reste in kürzester Zeit.
   Zur Zeit des Oldowaysees müssen noch andere Kräfte wirksam gewesen sein, die ihn seine Urkunden des Lebens sammeln und erhalten ließen. Sie waren durch das feuchte Klima und die Tätigkeit der Vulkane gegeben. Gaswolken und Aschenregen überfielen in langer Zeitfolge bald die Tiere der Steppe, bald die Bewohner des Hochlandes, töteten sie oder jagten sie in die Flucht. Morast und See verschlangen manchen Verschlagenen, Regenfluten schwemmten die am Lande Getöteten ins Wasser, wo ihre Kadaver, noch mehr oder minder im Zusammenhang oder bei weiterem Transport schon in Einzelteile aufgelöst, an stillen Plätzen des Seegrundes zur endgültigen Ruhe kamen, von Asche und Schlamm eingedeckt, dem Zugriff der Räuber und der Zerstörung durch Luft und Wasser entzogen, um für das Archiv der Geschichte des Lebens der Erde gerettet zu werden.
   Solche Bilder mußten bei sinnendem Nachdenken entstehen, wenn man in stiller Stunde vor den steinernen Zeugen stand, die jetzt, nach Zehntausenden von Jahren, Hacke und Schaufel wieder ans Tageslicht gebracht und fleißige Schwarze in diesen kleinen Hütten zum weiten Transport nach den fernen Museen Europas zusammengeschleppt hatten.
   Es war eine Freude zu sehen, mit welch überlegener Genugtuung meine Träger an diesen beiden Rasttagen die andern abends von der Arbeit zurückkommen sahen. Diese dagegen kamen im Sturmschritt über die Steppe daher, denn sie hatten noch lange nicht genug von unseren Erlebnissen gehört. Auch wollten sie gelobt sein für ihre fleißige Arbeit und wissen, was ihre Steine bedeuteten. Lachen und Staunen nahmen kein Ende an diesen Abenden. Besonders regten sie sich über mich auf - leider, denn ich hatte es vorher selbst gar nicht so gemerkt.
   "Lo! Amerudi enbamba!" (Er ist aber dünn zurückgekommen!)
"Ndio" (Ja), "weil er nie einen Weg gegangen ist, sondern immer über alle Berge."
   "Amepotea mafuta kama kabisa." (Er hat sein ganzes Fett verloren.)
   "Shingo yake kama twiga!" (Er hat einen Hals wie eine Giraffe bekommen!)
   Solche Begutachtungen hörte ich öfters vom Feuer her. Aber das wird schnell wieder anders werden, tröstete ich mich selbst, hier an den regelmäßig gefüllten Fleischtöpfen des Lagers.
   Am zweiten Rastabend kam Manjonga zum Zelt, von Bakari Omari zögernd begleitet. Man sah ihnen an, daß wie etwas auf dem Herzen hatten.
   "Bwana", fing Manjonga an, "wir haben noch etwas gefunden, was wir hier nicht haben."
   "So, wo denn?"
   "Im Graben."
   "Was denn?"
   "Ja, du hast doch gesagt, wir sollen nach unsrem baba suchen."
   "Ja, und - ?"
   "Ich glaube, wir haben ihn gefunden!"
   Issa Namanorow war auch dazu gekommen.
   "Kweli, Bwana, nasikiri yeye mwarabu." (Sicher, Herr, ich glaube, es ist ein Araber.)
   Ich war nicht wenig erstaunt, blieb aber reichlich skeptisch.
   "Kabisa, kabisa", fielen da alle drei im Chor ein, "er liegt auf der Seite und schläft."
   "Na, nun erzählt mal ordentlich, was los ist."
   Da nahm Bakari Omari das Wort.
   "Ich bin eines Tages am Hang drüben heruntergestiegen, um neue Stellen zu finden, da hat unter einem Busch ein kleines Stückchen Knochen herausgeschaut. Ich habe mit dem Messer gekratzt, da kam noch mehr, wie ein Kopf sah es schließlich aus, da bin ich nach Hause gegangen und habe es Manjonga gesagt."
   "Und ich bin dann auch hingegangen", fiel der ein, "und habe es gesehen. Wir haben dann zusammen weiter die Knochen aufgedeckt, bis wir merkten, daß es kein Tier war. Der Kopf ist ganz der eines Menschen."
   "Und was habt ihr dann gemacht?"
   "Wir sind noch ein paarmal dort gewesen, Issa Namanorow ist auch mit hingegangen. Wir haben noch ein Stück weiter von oben her die Erde abgeräumt, bis wir deutlich sehen konnten, daß da ein Mensch liegt. Dann haben wir ihn liegenlassen."
   "Das war recht so."
   "Wir haben nur noch eine Schutzhütte darübergebaut, damit der Regen die Kochen nicht zerstört."
   "Gut!"
   "Ja, Herr, aber du hast gesagt, bevor du abgereist bist, wenn wir einen baba finden, bekommen wir Backschisch. Das möchten wir jetzt haben."
   "Sicher bekommt ihr das, wenn ihr recht habt. Ich muß es nur erst selbst sehen."
   "Ndio, Bwana" (Ja, Herr), "morgen führen wir dich hin."
   "Natürlich! Gleich morgen früh."
   Ich war gespannt wie ein Regenschirm.
   Manjonga, Bakari, Namanorow, Albeti, Issam begleiteten mich nach dem Frühstück schluchtaufwärts. Manjonga führte. Über die Antilopengräben, die, jetzt schon wie große Plattformen in den Berghang eingeschnitten, noch immer neue Knochenmengen lieferten, ging es zur Wasserstelle, wo die Leopardenfalle seit Wochen leer geblieben war und auch sonst der Andrang der Tierwelt aufgehört hatte, da es oben im Graslande Tau genug zum Trinken gab. Hier stiegen wir die Schwarze Wand hinauf, dann ging es quer über die flache, breite Schluchtausweitung dahinter zum Gegenhang nach Norden. Wir waren nun oberhalb der großen Querverwerfung bei der Wasserstelle, einer der Hauptstufen, an denen sich das Land zum Balbal hinabstaffelt.
   Am Fuße des hohen Hanges blieb Manjonga stehen und deutete nach oben. Da blinkte ein kleines Strohdach nur wenige Meter unter der scharfen Oberkante der Schlucht zu uns herab.
   "Dort", sagte er und fing an, in die hellstreifigen, wie liniert aussehenden Felsstufen einzusteigen, die den Hauptteil des Steilhanges bilden. Es waren unverkennbar die Tuffbänder und Bänke des ältesten Teiles des Oldowayprofiles, der Horizont 1.
   Im oberen Drittel wurde der Hang anders. Wir traten in Horizont 2, den nächstjüngeren, ein. Das Gestein war gleichmäßiger, einheitlicher, grau bis graubraun, weich, fast erdig, deshalb auch nicht so steil geböscht wie sein Sockel, und überall von dornigen, aber grünen Büschen besetzt.
   Hier saß zunächst Mohamadi Tendaguru, der mit ein paar Leuten ein großes Elefantenschulterblatt aus dem tieferen Teil der Schicht herauspräparierte. An seinem Graben vorbei kletterten wir eilends hinauf zu dem Strohdach, das bis fast an den Boden herabreichte, um seinen Schatz genügend zu schützen. Es war nur lose auf seine Stützen aufgebunden, so daß es leicht abgehoben werden konnte.
   Jetzt kam der Augenblick der höchsten Spannung.
   In der Tat, da lag ein Mensch.
   Es ist unmöglich, die Gefühle darzustellen, die dieser Anblick auslöste. Freude, Hoffnung, Skepsis, Vorsicht, Eifer - all das wogte wild durcheinander.
   Denn das war sofort klar: Wenn dieses Skelett ein Zeitgenosse seiner Schicht und der fossilen Tierwelt Oldoways war, dann hatte dieser Fund eine ungeheure Bedeutung für die Geschichte frühester Menschheit, dann reichte sein Alter unbedingt bis tief ins Diluvium zurück, dann war dies nicht nur der älteste Fund auf afrikanischem Boden, sondern einer der ältesten Menschenfunde der Welt. Nebelhaft eröffneten sich ungeahnte Möglichkeiten über die Wiege der Menschheit. Ungeklärte und an Ort und Stelle ohne Literatur und ohne jede Vorbereitung auf solche Überraschung unklärbare Aussichten auf die Entwicklung des Menschengeschlechtes tauchten auf.
   Aber nicht nur Entdeckerfreude, sondern auch das Bewußtsein einer ungeheuren Verantwortlichkeit gegenüber der Wissenschaft stieg vor diesem Anblick auf. Nicht zu übersehenden Schaden konnte jede Leichtfertigkeit der Behandlung, jeder Mangel in der Beobachtung nach sich ziehen und für immer zerstören, was ein gütiges Geschick, ein glücklicher Zufall in grellem Schlaglicht vor mir ausgebreitet hatte.
   War es nicht ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß diese Grabung gerade in dem Jahr stattfinden mußte, als das Hinterhaupt dieses Menschen als sein oberflächennächster Teil eben herauszuwittern begonnen hatte, so daß Bakari mit seinen scharfen Augen die kleine, helle Knochenplatte am Hange sah?
   Nun war das Skelett vom Hange her an seiner Oberseite halb freigekratzt, ohne Verletzung, mit größter Vorsicht, wie mich der Augenschein überzeugte und wie es von Manjonga als meinem besten Präparator auch nicht anders zu erwarten war.
   Aber gehörte das Skelett auch in diese Schicht hinein? Diese Frage tauchte natürlich sehr bald auf. Oder war es etwa ein jüngeres Grab?
   Äußerlich war von einem Grabe nichts zu sehen. Auch von Grabbeigaben war keine Spur gefunden worden. Die Lage am steilen, dornenverwachsenen Hange einer tiefen Schlucht, wo auf Meilen ringsum bequem zugängliche freie Steppe sich dehnte, machte an sich schon ein junges Grab an dieser Stelle höchst unwahrscheinlich. Auch der graubraune, mergelige Stoff, in dem das Skelett lag, unterschied sich in nichts von seiner Umgebung - der erste Verdacht legte sich allmählich, aber auf die Möglichkeit dieses Gedankens mußte auch weiterhin in erster Linie Bedacht genommen werden.
   Ich hatte genug für heute, gab Manjonga noch Anweisung, wie er einen übersichtlichen Graben anlegen und in der Reinigung der Oberfläche des Skeletts weiterfahren sollte, und kehrte dann ins Lager zurück, um das überraschende Ergebnis dieses Fundes zunächst einmal in Ruhe zu durchdenken.
   "Bwana, bekommen wir unser Backschisch?" fragte, als ich ging, noch Bakari.
   "Ja, das habt ihr euch ehrlich verdient!"
   Das war für die Schwarzen die wichtigste Seite des Menschenfundes. Sonst liebten sie ihn nicht sehr, denn mit Toten geben sie sich nicht gerne ab. Man kann nie wissen, was sein Geist dazu sagen könnte, war ihr Standpunkt. Das war sicherlich auch ein sehr wesentlicher Grund dafür gewesen, daß sie nicht schon im meiner Abwesenheit weiter gegraben hatten; mir war das unsagbar lieb. Jetzt fühlten sie sich erheblich sicherer im Schutz eines nahen Europäers, den nach ihrer Ansicht selbst diese bösen Geister fürchteten.
   Am nächsten Nachmittage hatte Manjonga die Freilegung des Skeletts von oben so weit fertig, daß alle Einzelheiten seiner Lage gut zu übersehen waren. Der Rumpf war auf den Rücken gedrückt, im übrigen herrschte Seitenlage. Das Skelett füllte einen nur engen Raum; die Beine waren dicht an den Körper herangezogen, auch die Arme waren scharf gewinkelt, die Hand hart am Kopf.
   Und dieser selbst? Ja, dazu war schwer Stellung zu nehmen, da nichts Vergleichbares zur Hand war und niemand jemals an die Möglichkeit eines Menschenfundes gedacht hatte, als ich nach Oldoway auszog. Das Urteil darüber mußte der Untersuchung zu Hause vorbehalten bleiben. Das auffälligste Merkmal waren die ungewöhnlich großen Augenhöhlen, denen die dicken Knochenwülste der primitiven Neandertalrasse durchaus fehlten. Der Unterkiefer war ausgehakt und ein wenig nach oben verschoben. Das gab dem Gesicht etwas tierisch Wildes, aber das war naturgemäß nur ein Eindruck, der mit dem Bau des Schädels nichts zu tun hatte. Im Gegenteil wies das spitze, vorspringende Kinn auf eine schon weit fortgeschrittene Entwicklung.
   Auffällig waren die Vollständigkeit und Güte der Erhaltung des Skelettes im natürlichen Verbande seiner Einzelteile. Darin war es deutlich verschieden von fast allen Tierfunden, von denen zwar häufig auch zusammengehörige Teile eines Gerippes gefunden wurden, aber doch stets im aufgelösten Zustande und über eine größere Fläche zerstreut. Auch der Grad der Versteinerung war ein anderer als bei den Tierknochen. Die Einzelteile waren bröckeliger, weniger schwer, also offenbar nicht so weit versteinert wie jene.
   Wie waren alle diese zum Teil widerspruchsvollen Dinge zu deuten? Es ist wohl verständlich, daß die Fragen, welche hier auftauchten und die später ein bald zwanzigjähriger Streit in der Literatur noch nicht endgültig zu klären wußte, in jenen ersten Tagen und Wochen erst recht ohne Antwort blieben.
   Das einzige, was geschehen konnte und mußte, war, die ganze Aufmerksamkeit auf die sorgfältige Bergung des Fundes zu vereinigen. Diese Aufgabe befriedigend zu lösen, mußte möglich sein.
   Die übrige Grabung trat in diesen Tagen der ersten Aufregung über den Menschenfund ein wenig in den Hintergrund. Es blieb mir auch nicht viel Zeit für die andern Gräben. Der tägliche Andrang der Knochen im Lager, welche die Leute von allen Seiten anschleppten, verlangte gebieterisch meine Anwesenheit und Arbeit im Magazin. Denn Issa Namanorow konnte nicht packen, bevor die Stücke mit Nummer und Zettel versehen, notiert und ins Fundbuch eingetragen waren. Dabei konnte mir keiner helfen, das mußte alles mit eigener Hand gemacht werden. Und das erforderte alle Stunden des Tages, die mir der Menschengraben und die andere nötigste Arbeit übrigließen. Es war eine Sisyphusarbeit, denn kaum war ein Tisch abgeräumt, da füllte ihn die Ausbeute der abendlichen Heimkehrer von neuem. Der Reichtum der Funde war ungeheuer, der Erfolg dieser Grabung reicher, als ich mir je hätte träumen lassen. Das trat erst jetzt mit voller Deutlichkeit in Erscheinung, als das über den weiten Grabungsraum verteilte Material im Lager zusammenströmte.
   Leider war dies der Anfang vom Ende. Es war die Vorbereitung für den nahen Abbruch der Arbeiten. Denn bald nach unserer Rückkehr von der Vulkanreise waren Boten nach Umbulu gegangen, um die letzte Post, die letzte Verpflegung, die letzte Trägerkolonne für Knochenlasten und Wasserträger für den Marsch durch die Serengeti von Herrn Hager zu erbitten. Die mußten nun in Kürze eintreffen.
   Issa Namanorow stöhnte. Er konnte gar nicht genug trockenes Gras und Stäbe auftreiben, um den Haufen von Knochenbündeln in ihren Heuumhüllungen zu Lasten zu verpacken. Ein ganzer Berg füllte den Lagerschuppen, und täglich wurden es mehr.
   Manjonga war aller andern Arbeit enthoben und sollte seine ganze Zeit und Geschicklichkeit dem Menschenfunde widmen. Natürlich wurde dieser samt seiner Umgebung sorgfältig von allen Seiten photographiert. Nachdem er von oben vollends freigelegt war, wobei bis zuletzt kein Anzeichen entdeckt wurde, welches auf eine Grabzuschüttung über ihm oder auf Grabbeigaben hätte schließen lassen, wurde der Graben im engsten Umkreise des Skeletts vertieft ausgehoben, so daß es auf und in der umhüllenden Gesteinsmasse wie auf einem Sockel ruhte. Auch diese Grabung unter und um das Skelett herum brachte keine Grabgrenze, kein ortsfremdes Material, keine durch Schüttung erzeugte Schichtung der Erde zutage. Hüllmasse und Umgebung waren allem Anschein nach ein und derselbe Stoff. Immer klarer kristallisierte sich aus diesem örtlichen Befunde der geologische Schluß heraus, daß der Mensch ganz wie die Tiere als gleichaltriges Fossil in seine Schicht hineingehörte und nicht erst später als jüngeres Grab in sie hineingekommen war.
   Um aber auch in der Heimat diese natürliche Umhüllung aufzeigen zu können, sollte das Skelett nicht aus seiner Bettung herausgemeißelt, sondern mit ihr in Blöcken abgehoben und nach Deutschland gebracht werden.
   Die Präparationsarbeit war damit so weit gediehen, daß am nächsten Morgen mit der Stoffeinhüllung des Fundes begonnen werden konnte, als mir Liguema, mit seinem Wassereimer von Longavata heimkehrend, Grüße von zwei Europäern mitbrachte, die unten im Balbal lagerten.
   Ich war sehr neugierig, wer das sein mochte, und schickte sogleich Boten hinunter, um sie einzuladen. Es war der erste Europäerbesuch in diesem Lager der Einsamkeit, doppelt erwünscht in diesen Tagen, weil er mein Zeuge werden sollte für das Skelett, das gerade fertig freigelegt war, sonst aber noch unberührt an seinem Fundplatze ruhte. Nach einer Stunde waren meine Gäste da. Es waren Herr von Busse und Herr Klöckner aus Tanga, die sich unterwegs befanden, um den Norden der Kolonie kennenzulernen, und im Begriff waren, von Balbal aus die Serengeti nach Ikoma zu queren, ganz wie auch ich dies für die nächsten Wochen plante. Die Begrüßungsfreude war beiderseits gleich groß. Für sie, weil sie hier ganz Unerwartetes zu sehen bekamen, für mich, weil es eine Wohltat war, wieder einmal über die Fülle des Erlebten sprechen und Neues aus der großen Welt hören zu können. Das wurde lange gefeiert bei einem frisch geschossenen und gemeinsam verzehrten Steppenhäschen sowie einem windgekühlten nächtlichen Trunk.
   Am nächsten Morgen führte ich meine Gäste durch die Schlucht hinauf zu den verschiedenen Gräben. Zuletzt zum Menschen, an dem Manjonga die letzte Reinigung der Knochenoberfläche vornahm, um sie dann ganz, wie sie war, mit Baumwolläppchen in Gummilösung zu härten und einzudecken.
   Es lag etwas Ehrfürchtiges in der Stimmung, mit der wir um diesen Zeugen einer Vorzeit Afrikas herumstanden, über deren Leben hier der Erde erste Dokumente entrungen wurden. Die Weihe der Zeit lag über diesen Gebeinen, die auf die ferne Morgenröte des eigenen Stammes zurückwiesen. Ein unausgesprochener, dennoch unverkennbarer Unterschied des Empfindens war an das Interesse gebunden, das der Menschenfund einerseits, die Tierfunde andererseits auslösten.
   Die Reste des Menschen berührten doch im Unterbewußtsein eine Saite, die den Gedanken an das eigene Ich aus diesen Gebeinen klingen ließ. Bei den Resten der Tierwelt aber war es weit mehr die Freude am Schauen, der Reiz des Neuen, noch nicht Gesehenen, etwa eine absonderliche Form oder eine ungewöhnliche Größe, welche die Gedanken zu abenteuerlichen Vorstellungen anregten.
   Am Abend hieß es Abschied nehmen, denn meine Gäste wollten am nächsten Morgen ihren Serengetimarsch beginnen. Da sie Longavata nicht gekannt und nur ein schauerliches Schlammwasser, dafür aber viele Liter Petroleum für die Lagerlampen mit sich führten, das mir nahezu ausgegangen war, so ergab sich ein beiderseits erwünschter Austausch einiger Flaschen dieser nützlichen Flüssigkeiten, dann schieden sie, von einem herzlichen Glückauf begleitet für ihren gefährlichen, langen Marsch.
   Im Menschengraben begann nunmehr der letzte Akt der Arbeit. Rotlehm, in Gummilösung angerührt, wurde als Brei in dicker Lage über das bandagierte Skelett gestrichen - das ersetzte vollwertig einen europäischen Gipsverband. Nachdem er hart und trocken geworden war, wurde das Skelett in Blöcken samt seiner Hüllmasse vom Grunde des Grabens abgehoben, nachdem sein Sockel von allen Seiten her untergraben war. Dann wurden die Stücke gewendet, von unten ebenso behandelt wie vorher die Oberseite, so daß sie schließlich in ihrem starren, festen Panzer von Rotlehm ungefährdet die Reise nach dem Lager, nach Umbalu, nach der Küste und die große Fahrt über das Meer antreten konnten.
   Nur den Schädel, der in seinem Verbande wie eine rote Kegelkugel aussah, hatte ich ins Zelt mitgenommen. Von ihm, als dem wertvollsten Teil des Ganzen, wollte ich mich nicht trennen, weshalb er, weich in meiner Wäschelast gebettet, noch die Reise nach dem Viktoriasee mitmachen mußte, ehe er nach Deutschland kam.

Reck, Hans
Oldoway - die Schlucht des Urmenschen
Leipzig 1933

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